Die Weltgesundheitsorganisation hat ihre Leitlinien für die HIV-Therapie überarbeitet: Menschen mit HIV sollen bereits bei 500 Helferzellen mit einer Behandlung beginnen, Schwangere, Kinder unter fünf Jahren und Positive in Beziehungen mit HIV-negativen Partnern sofort. Eine Einschätzung von DAH-Medizinreferent Armin Schafberger
Die WHO beruft sich für ihre neuen HIV-Therapieleitlinien auf die Ergebnisse der 2011 publizierten HPTN052-Studie, in der nachgewiesen wurde, dass ein früher Therapiestart die Sexualpartner vor einer HIV-Infektion schützt (siehe HIVreport 05/2011). In der Studie zeigte sich, dass HIV-Positive mit frühem Therapiestart seltener eine Tuberkulose als Begleitinfektion haben als HIV-Positive, die später (unter 250 Helferzellen pro Mikroliter Blut) eine Therapie beginnen. Die Fälle kamen ausschließlich in afrikanischen Ländern und Indien vor, der Effekt war zudem nicht besonders ausgeprägt.
Ob der Therapiestart bei 500 Helferzellen einen relevanten Vorteil für HIV-Positive bringt, ist in der Wissenschaft noch strittig. Dass es besser ist, bereits bei 350 Helferzellen eine Therapie zu beginnen als bei 200 Zellen – unter 200 Helferzellen spricht man von „Aids“ –, ließ sich dagegen leicht an der (errechneten) Lebenserwartung ablesen: Bei (zu) spätem Therapiebeginn ist sie stark verkürzt, bei einem Therapiestart bei 350 Helferzellen fast normal.
Was also kann mit einem Therapiestart ab 500 Helferzellen gegenüber einem Start ab 350 Helferzellen noch gewonnen werden? Klären soll das die internationale START-Studie, an der über 4.000 HIV-Positive aus 36 Ländern teilnehmen. Ergebnisse sollen 2016 vorliegen. Groß dürften die Unterschiede allerdings nicht sein, und kleine Unterschiede nachzuweisen ist schwer – daher die große Zahl der Probanden und die lange Laufzeit.
Die WHO hat also dem Ergebnis der Studie vorgegriffen. Was die Weltgesundheitsorganisation macht, falls START keinen entscheidenden Vorteil oder sogar Nachteile des früheren Therapiebeginns mit sich bringt, ist unklar.
„Strategischer“ Einsatz der HIV-Therapie?
Die WHO hat zudem die Leitlinie nicht nur unter dem Gesichtspunkt „Was ist das Beste für die HIV-Positiven?“ publiziert, sondern will die HIV-Therapie auch „strategisch“ als Präventionsmittel einsetzen, denn mit einer funktionierenden Therapie kann eine sexuelle HIV-Übertragung sicher verhindert werden. Dies wissen wir seit der HPTN052-Studie. Dem Ansatz „Treatment as Prevention“, dem gezielten Einsatz der Therapie zur Prävention, folgen die Deutsche AIDS-Hilfe und auch die deutsch-österreichischen Therapieleitlinien nicht. Für uns bleibt Therapie, was sie ist: Therapie. Dass sie auch die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Übertragung senkt, ist für uns ein sehr erwünschter Begleiteffekt, der auch zur Entstigmatisierung und Entkriminalisierung von Menschen mit HIV beitragen kann. Die Deutsche AIDS-Hilfe hat dies als eine der ersten Präventionsorganisationen bereits 2009 in ihre Arbeit aufgenommen.
In den deutsch-österreichischen Therapieleitlinien gibt es die Möglichkeit, bei „Patientenwunsch“ zu jedem Zeitpunkt eine Therapie zu beginnen. Dieser Wunsch kann zum Beispiel sein, frühzeitig etwas gegen das Virus im Körper zu tun, aber auch, den Partner oder die Partnerin zu schützen. Wichtig ist: Es bleibt der Wunsch der Patienten und nicht das Ziel von Public-Health-Maßnahmen, eine frühere Therapie zu beginnen.
Es geht auch um die Diagnose – und damit um das HIV-Stigma
Für Deutschland wird sich durch die neuen WHO-Leitlinien kaum etwas ändern. Zwar sehen unsere Leitlinien einen Therapiebeginn erst ab (spätestens) 350 Helferzellen vor. Für ältere Patienten (über 50 Jahre), Patienten mit Begleiterkrankungen oder hoher Viruslast empfehlen aber auch sie einen Therapiebeginn bei 500 Helferzellen („sollte erfolgen“). Und nicht zuletzt kann eine Therapie ja, wie geschildert, auf Wunsch der Patienten jederzeit erfolgen
In ärmeren Staaten dagegen werden Anspruch und Realität weiter auseinanderklaffen. Nach den neuen Leitlinien bräuchten knapp 26 Millionen Menschen weltweit eine Therapie, 9,2 Millionen mehr als nach den alten Leitlinien. Tatsächlich bekommen derzeit aber „nur“ etwa 10 Millionen eine Therapie. Es müssten also noch erheblich mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden, um das in der Leitlinie formulierte Ziel zu erfüllen.
Doch es geht nicht nur um die Zahl der zu therapierenden Personen. Gerade in ärmeren Ländern wird die Mehrzahl der HIV-Infektionen erst bei Infizierten mit weit unter 200 Helferzellen festgestellt. Es müsste also viel getan werden, um Menschen mit HIV rechtzeitig zu diagnostizieren. Dem stehen vielerorts jedoch noch erhebliche Barrieren im Weg – neben zu wenig niedrigschwelligen Testprojekten auch und gerade die Diskriminierung und Kriminalisierung von HIV-Positiven.
Hinzu kommt: Weltweit soll die Messung der Viruslast, also der Virenmenge pro Milliliter Blutserum, zur Therapiekontrolle eingesetzt werden – obwohl diese Messung in vielen Regionen überhaupt nicht erhältlich ist.
Mehr Kinder therapieren!
Auch um die HIV-Therapie von Kindern ist es derzeit schlecht bestellt. Der Anteil der HIV-infizierten Kinder in ärmeren Ländern und Schwellenländern, die eine Therapie erhalten, liegt weit unter dem entsprechenden Anteil bei den Erwachsenen. Die WHO schreibt daher in ihrer Leitlinie, dass alle positiven Kinder unter fünf Jahren unabhängig von der Helferzellzahl eine Therapie erhalten sollten. Dies macht den Mangel deutlich, doch sind die Barrieren hier andere: Es gibt zu wenig kindergerechte Formulierungen der Medikamente. Man bräuchte mehr Tabletten und Pillen in kleineren Dosierungen, und die Präparate sollten deutlich eher nach der Marktzulassung als bisher auch für Kinder geprüft und zugelassen werden. Zudem ist es vor Ort schwieriger, Kinder zu behandeln als Erwachsene. Die Dosierungen müssen dem Wachstum des Kindes angepasst werden, hier genügt es nicht, eine Tablette am Tag für alle zu verordnen. In vielen Ländern ist das desolate Gesundheitssystem aber kaum geeignet, Kinder mit HIV angemessen zu behandeln.
Die gleichen Standards für alle?
Alle Menschen mit HIV sollten nach der WHO-Leitlinie die gleiche oder ähnliche Empfehlungen für die Medikamentenauswahl zum Therapiestart bekommen. Die WHO empfiehlt die Kombination aus Tenofovir, Emtricitabin und Efavirenz, möglichst als nur einmal täglich einzunehmende Kombinationspille.
Die Realität jedoch sieht so aus, dass Tenofovir nicht einmal in den südosteuropäischen Staaten ausreichend zur Verfügung steht. Der WHO ist das bewusst. Sie will aber die Unterschiede beim Zugang zu Medikamenten in ihrer Leitlinie nicht anerkennen und formuliert daher eher ein erstrebenswertes Ziel als eine den Umständen angepasste Empfehlung. Dies sollte sich in den jeweiligen regionalen Leitlinien niederschlagen.
Efavirenz für Schwangere?
Die WHO-Empfehlung für Efavirenz gilt auch für Schwangere – obwohl die Substanz in Tierversuchen zu Fehlbildungen geführt hat. In den deutsch-österreichischen Leitlinien dagegen steht, dass Efavirenz bei Schwangerschaft und Kinderwunsch nicht verordnet werden sollte. Schließlich steht schon in der Fachinformation für das Medikament die Warnung: „Efavirenz darf nicht während einer Schwangerschaft eingenommen werden, es sei denn, die klinische Verfassung der Patientin erfordert eine derartige Behandlung.“
Mit der Leitlinie setzt sich die WHO über diese Fachinformation hinweg. Fachinformationen sind bei medizinrechtlichen Streitfällen jedoch die wichtigste Grundlage bei der Prüfung, ob Ärzten Behandlungsfehler unterlaufen sind. Wer nach WHO-Leitlinie Efavirenz verschreibt, würde sich im Streitfall daher auf dünnem Eis bewegen, und so gibt es in der Ärzteschaft erheblichen Diskussionsbedarf zu diesem Teil der Leitlinie.
Fazit
Die Leitlinien der WHO sind eher als politische Willenserklärung zu sehen denn als in der Realität umsetzbar. Vor Ort wird man sich in ärmeren Ländern nach wie vor danach orientieren, wer nach klinischem Zustand die begrenzten Medikamente am dringendsten braucht – bevor man Menschen behandelt, bei denen der Nutzen einer sehr frühen Therapie noch gar nicht ausreichend belegt ist. Auch für Industrieländer wird sich wenig ändern. Hier sind die Therapieleitlinien bereits so formuliert, dass ein früherer Therapiestart möglich ist – auch wenn er aus guten Gründen nicht allgemein empfohlen wird.
Die Schere zwischen Anspruch und Realität dagegen geht bei der medizinischen Versorgung in vielen Ländern durch die Leitlinie weiter auseinander. Hier müssen dringend mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt werden – ob mit oder ohne neue Leitlinie.