Die Zahl der Heroinabhängigen, die sich mit Ersatzstoffen behandeln lassen, nimmt erfreulicherweise zu. Das Problem allerdings ist, dass zu wenige Ärzte die Substitution übernehmen. Welche positiven, aber auch negativen Erfahrungen Suchtmediziner machen, erzählt der Berliner Arzt Hubert Schulbin im Gespräch mit Axel Schock.
„Wir brauchen Sie, liebe Kollegen.“ Mit diesem Aufruf in medizinischen Fachmedien versucht derzeit der „Initiativkreis Substitutionstherapie“ Ärztinnen und Ärzte für die Behandlung Heroinabhängiger mit Ersatzstoffen zu gewinnen. Denn: Es ist dringend Nachwuchs nötig. Viele Ärzte, die seit Zulassung der Substitutionsbehandlung Anfang der 1990er Jahre die Versorgung übernommen haben, stehen inzwischen vor der Rente. Die Zahl der substituierenden Praxen stagniert bundesweit, die Patientenzahl hat sich im vergangenen Jahrzehnt dagegen verdoppelt. Nicht mehr überzeugt werden muss der Internist Hubert Schulbin.
Suchtmedizin wird im Studium vernachlässigt
Der 41-Jährige hatte erstmals im Rahmen seiner Tätigkeit am Berliner Auguste-Viktoria-Krankenhaus mit Suchtkranken zu tun. Nach einer Zwischenstation in einer Schwerpunktpraxis für HIV und Suchtmedizin hat sich Schulbin nun vor einem Jahr selbstständig gemacht.
In der Suchtmedizin drohen Versorgungslücken. Wie kommt es, dass sich so wenige junge Ärztinnen und Ärzte für diesen Arbeitsbereich interessieren?
Hubert Schulbin: Während des Studiums wird man nicht herangeführt. Danach im Praxisjahr in der Klinik macht man mit Suchtkranken eher negative Erfahrungen. Man erlebt Abhängige oft als anstrengende Patienten, die bei der Visite nie auf dem Zimmer anzutreffen sind, weil sie immer zum Rauchen müssen. Und die den Nachtdienst nerven, weil sie nicht schlafen können und deshalb versuchen, sich eine Oxazepam- oder Rohypnol-Tablette zu erschleichen.
Die Sucht können die Ärzte zwar nicht ignorieren, aber sie spielt medizinisch nur eine untergeordnete Rolle. Denn in diesem Moment geht es in der Regel um ein akutes Problem, etwa ein offenes Bein, und nicht um die Sucht an sich.
Sie wurden in der Klinik offensichtlich nicht abgeschreckt, sondern haben die Suchtmedizin zu einem Arbeitsschwerpunkt gemacht.
Ich bin da mehr so hineingerutscht. Ich sehe mich in erster Linie als Infektiologen. Wenn man in einer HIV-Schwerpunktpraxis arbeitet, gehören substituierte Patienten automatisch mit dazu. In einem Bezirk wie Kreuzberg, wo ich mich niedergelassen habe, sind natürlich viele MSM darunter – also Männer, die Sex mit Männern haben – und auch viele Migranten.
Ein Drittel der Patienten allerdings hat auch eine Suchterkrankung. Manche von ihnen kenne ich schon seit 2003, als ich begonnen hatte, im Auguste-Viktoria-Krankenhaus zu arbeiten.
Was ziehen Sie für sich ganz persönlich aus der Betreuung von Suchtpatienten?
Diese besondere Mischung von Menschen, mit denen ich in meiner Praxis zu tun habe, macht die Arbeit spannend und bunt. Deshalb gefällt es mir auch in Kreuzberg so gut – ich bin ganz gezielt hierhergezogen. Weil man die Suchtpatienten sehr oft erlebt, zum Teil ja täglich, baut man auch eine viel intensivere Beziehung zu ihnen auf. Sie öffnen sich auch mehr als beispielsweise ein Diabetes-Patient, den ich vielleicht nur alle vier, sechs Wochen sehe.
Mit welchen weiteren Argumenten würden Sie Ärztekollegen von der Suchtmedizin überzeugen wollen?
Es geht in diesem Bereich wirklich um Medizin! Man kann tatsächlich etwas sehr Wichtiges für die Patienten tun, es geht nicht nur darum, den Vitamin-D-Spiegel zu justieren, um es mal salopp zu formulieren. Und wer sich für Infektionsmedizin begeistern kann, lernt hier Krankheitsbilder kennen, wie man sie sonst im medizinischen Alltag nicht unbedingt zu sehen bekommt. Und die Suchtmedizin ist lukrativ, auch das sollte man nicht unerwähnt lassen.
Ebenso wenig, dass Suchtpatienten nicht immer die einfachsten sind.
Es ist richtig, dass diese Patienten aufgrund ihrer Erkrankung anstrengender sind. Und wenn man sie ernst nimmt, sind sie sehr betreuungsintensiv. Man muss als Arzt viel Geduld haben, und manchmal muss ich auch darauf hinweisen, dass wir eine Arztpraxis und kein Schnellrestaurant sind und die Hunde hier nichts zu suchen haben. Oder ein Patient fliegt aus seiner Wohngruppe raus, weil er Beikonsum hatte, und lebt somit kurzeitig auf der Straße. Bei 30 Grad Sommerhitze müffelt der eben auch mal ein bisschen. Auch damit muss man leben und umgehen können. Und man muss einen Weg finden, dass es die anderen Patienten nicht verschreckt.
Aber eigentlich sind die Suchtpatienten immer sehr einsichtig. Wenn sie merken, dass man ein Interesse hat, sie gesundheitlich zu stabilisieren, dann respektieren sie auch, dass sie sich an gewisse Regeln zu halten haben.
Wie kommen Ihre „normalen“ Patienten mit den Suchtkranken zurande?
Ich versuche das so zu steuern, dass die Praxis keine reine Vergabepraxis ist. Für die Substitutvergabe haben wir feste Zeiten außerhalb der regulären Sprechstunden, am Morgen und am Mittag. Das hat auch schlicht personelle Gründe. Vor- und nachmittags sind wir eine ganz normale internistische hausärztliche Praxis, in der die Suchtmedizin allerdings ihren besonderen Stellenwert hat.
„Die Verordnungen sind unglaublich streng“
Manche Patienten, die vielleicht ein bisschen länger warten mussten, sind dann plötzlich überrascht, dass ab 12 Uhr so viele Menschen kommen und nach hinten verschwinden. Die haben erst dadurch mitbekommen, dass wir auch substituieren.
Viel aufreibender als die geringe Disziplin mancher Suchtpatienten dürfte der rechtliche Rahmen sein, in der die Substitution stattfindet.
Die Verordnungen sind unglaublich streng, gerade auch im internationalen Vergleich. Man hat das Gefühl, ständig unter völliger Überwachung zu arbeiten. Weil man mit Betäubungsmittelrezepten zu tun hat, muss über den Medikamentenbestand eines jeden Patienten akribisch Buch geführt werden. Dieser bürokratische Aufwand ist wahnsinnig und steht in keinem Verhältnis zu der Abrechnungspauschale, die es für die Substitutvergabe gibt: 3,89 Euro vor Steuern pro Patient und Tag. Davon müssen auch das Personal, die Miete und der Plastikbecher für das Medikament bezahlt werden.
Das klingt nach einem Verlustgeschäft.
Hier macht es tatsächlich die Masse, wobei ein junger Arzt nicht mehr als 50 Suchtpatienten betreuen darf – was ich grundsätzlich für eine sehr gute Regelung halte.
Noch komplizierter wird es, wenn ein Patient einmal kurzfristig verreisen muss, etwa weil er zur Beerdigung eines Familienmitglieds fahren möchte. Viele meiner Patienten kommen aus südeuropäischen Ländern und verbringen viel Zeit bei ihren Familien – was ja grundsätzlich etwas sehr Gutes ist. Aber die Regelungen sind derart alltagsuntauglich, dass man als Arzt schnell mal mit einem Bein im Knast steht.
Weil wir gerade vom Geld sprachen: Derzeit gibt es Vorstöße der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), wonach Suchtmediziner ihre Substitutionspatienten nicht zugleich hausärztlich versorgen dürfen.
Da denken die Kollegen leider nicht mit. Denn es ist ja gerade das Substitut, durch das diese schwerstkranken Patienten wieder Zugang zum Gesundheitssystem und dadurch zu regelmäßiger Versorgung bekommen – damit sie geimpft werden, damit Lungenentzündungen und Hepatitis behandelt werden. Wir vergeben ja nicht nur das Substitut, sondern machen die ganze Palette der hausärztlichen Versorgung: Wir stellen den Blutdruck ein, wir impfen und behandeln kleine Abszesse. Denn viele dieser Patienten wären schlicht überfordert, wenn wir sie zur Weiterbehandlung zum Chirurgen schicken würden.
Was halten Sie vom Vorschlag der KV, den Substitutionsärzten die Ziffer für die hausärztliche Versorgung zu streichen?
Darin zeigt sich zunächst eine geringe Wertschätzung dessen, was die Substitutionspraxen leisten. Zum anderen schwingt darin auch das Vorurteil mit, dass das alles zwar viel kostet, aber im Grunde nichts bringt. Wenn man sich aber die Daten anschaut, zeigt sich genau das Gegenteil. Nämlich, dass diese Art der ärztlichen Versorgung und Substitution dazu führt, dass es unter Suchtpatienten weniger HIV-Infektionen gibt, sich ihr gesundheitlicher Zustand stabilisiert und sie nicht mehr so schnell sterben.
Bei einem Teil der Ärzteschaft hat die Substitution einen schlechten Ruf
Das alles wird aber nicht gesehen. Ich möchte die verschiedenen Disziplinen nicht gegeneinander ausspielen, aber niemand würde beispielsweise anzweifeln, dass das, was in der Hightech-Medizin machbar ist, auch die entsprechenden Kosten rechtfertigt.
Ist die Suchtmedizin das Schmuddelkind der Branche?
Es trifft sicherlich zu, dass die Substitution bei einem Teil der Ärzteschaft einen schlechten Ruf hat und nicht als „saubere Medizin“ gilt. Manche Kollegen betrachten die kostenintensive Suchtmedizin generell mit Argwohn, weil in ihren Augen dadurch weniger Geld für bestimmte Apparatemedizin zur Verfügung steht. Andere hantieren wiederum mit Argumenten auf Stammtischniveau. Es gibt eben auch Ärzte, die an diesen Tischen sitzen. Aber damit lässt sich umgehen.
Vielen Dank für das Gespräch!