Emotionen sind ein wichtiges „Wertungs- und Warnsystem“ des Menschen. In der Entwicklungsgeschichte des Homo sapiens haben sie lange Zeit geholfen, Erfahrungen und Erinnerungen als „gut“ oder „schlecht“ für das Überleben zu markieren. Was in der Frühgeschichte des Menschen noch nützlich war, wird in der heutigen Gesellschaft immer häufiger zur Quelle von durch Stress ausgelösten chronischen Erkrankungen. Dazu zählen vor allem Stoffwechselerkrankungen. Neuerdings gehören immer öfter auch neurologisch-psychiatrische Erkrankungsbilder dazu: Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und schließlich auch chronische Schmerzerkrankungen und vorzeitige Alterungsvorgänge. Wie sich Emotionen über das limbische System des Gehirns förderlich oder schädlich auf Körperfunktionen auswirken, ist dank neuester bildgebender Verfahren inzwischen schon recht gut erforscht. Erfreulich im Umkehrschluss: Das, was Menschen chronisch krank werden lässt, zeigt uns auch neue Wege zur Therapie und Heilung. In der neuraltherapeutischen Praxis ist – neben Segment-und Störfeldbehandlung – eine intravenöse Procain-Injektion von 1-2 ml Procain seit etwa 85 Jahren üblich, ein empirisches Vorgehen, das bislang ohne wissenschaftliche Begründung war. Dass Procain an einer ganz bestimmten Stelle des Gehirns wirksam wird, nämlich am limbischen System, ist nun durch neueste bildgebende Verfahren nachzuweisen. Bei dem limbischen System handelt es sich um jene Funktionseinheit des Gehirns, die entscheidend an der Umwandlung von Stress in Körperreaktionen beteiligt ist.
Vorbemerkung:
Dieser Blogbeitrag fasst in verkürzter Form Erkenntnisse zusammen, die ich 2011 in einem Beitrag der Schweizerischen Zeitschrift für Ganzheitsmedizin/Swiss Journal of Integrative Medicine veröffentlicht habe (1).
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Chronische Erkrankungen
Jede Zeit hat anscheinend ihre typischen Krankheiten. Waren es zu Beginn des Industriezeitalters zunächst Infektionskrankheiten, die – durch mangelnde Hygiene, prekäre Lebensverhältnisse und eine aus heutiger Sicht ungenügende Gesundheitsversorgung – viele Menschenleben kosteten, so sind es heute die sogenannten Zivilisationskrankheiten, welche die Lebensqualität von Menschen in Industrieländern stark einschränken. Rund 70 Prozent der Krankheitskosten in Industriestaaten (2) entfallen inzwischen auf die Behandlung von chronischen Erkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Arthritis, Asthma oder Depressionen. Die konventionelle Medizin bietet für chronische Erkrankungen oft wenig wirklich heilende therapeutische Ansätze. Ärztliches Handeln beschränkt sich immer öfter darauf, Leiden wie Schmerzen ohne organischen Befund einfach vorübergehend zu lindern- Symptome zu unterdrücken, anstatt Krankheiten von der Wurzel her zu behandeln. Geschieht dies über auf längere Zeit angelegte Medikamentenverordnungen, können schwerwiegende Nebenwirkungen die Folge sein.
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Emotionaler Stress als Ursache von chronischen Erkrankungen
Zivilisationskrankheiten lassen sich in der Regel nicht einer einzigen Ursache zuordnen. Es wird angenommen, dass sie durch einen Mix an körperlichen, emotionalen und geistigen Stressoren ausgelöst werden, die sich gegenseitig beeinflussen und auf die Menschen sehr individuell reagieren. Körperliche Stressoren wie z. B. Bewegungsarmut, einseitige und/oder unangemessen kalorienreiche Ernährung sind nicht die einzigen Einflussfaktoren, die unseren Körper nachhaltig schädigen können. Auch lang anhaltender negativer emotionaler Stress (Leistungsdruck, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Mobbing, Ängste und Aggressionen im familiären Umfeld etc.) greift über die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol nachhaltig in das Körpergeschehen ein und kann ganze Kaskaden von Folgeeffekten auslösen:
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„Das Depotfett, etwa an Oberschenkeln und Gesäß, nimmt langsam ab, und das zwischen den Eingeweiden liegende Stammfett, das sogenannte viszerale Fett, das schließlich zur größten Hormondrüse des Körpers werden kann, entsteht. Diese produziert Entzündungsstoffe, z. B. die Interleukine und den sogenannten Tumornekrosefaktor (TNF), und verursacht so – besonders an den Herzkranzgefäßen – entzündliche Gefäßschäden. Das viszerale Bauchfett fördert die sogenannte Insulinresistenz, das Nichtansprechen der Organzellen auf Insulin, wobei der genaue Ablauf noch nicht bekannt ist. Der Blutzucker steigt an; er benötigt eine immer stärkere Insulinausschüttung der Bauchspeicheldrüse, um den lebenswichtigen Energiespender Glucose in die Zellen zu pressen. Die Entstehung des Diabetes mellitus Typ 2 wird eingeleitet.“ (1)
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„Die zunehmende Körperfettmasse führt auf hormonellem Weg wiederum zu einer erhöhten und bislang noch nicht vollständig erforschten Sympathikusaktivierung sowie zu weiterer Trägheit und Bewegungsarmut. Bei Dauerstress kommt es zu permanent erhöhten Cortisol-Spiegeln; die Appetitsteigerung durch Cortisol ist hoch und die Immunsuppression durch Cortisol führt vermehrt zu rezidivierenden (wiederkehrenden) Infekten und sonstigen Immunstörungen.“ (1)
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Pathogene Kettenreaktionen
Was zunächst „nur“ mit negativem emotionalem Stress beginnt, kann im Verlaufe von Jahren zu einer krankmachenden Kettenreaktion führen, die je nach Veranlagung in unterschiedlichen und teils sehr komplexen Krankheitsbildern „enden“ kann:
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Stoffwechselerkrankungen: chronische Entzündungen, Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2, Arteriosklerose, koronare Herzkrankheit sowie Bluthochdruck
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Neurologisch-psychiatrische Erkrankungen: Burnout, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und Somatisierungsstörungen wie Müdigkeit und Erschöpfung
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Sonstige Erkrankungen: chronische Schmerzzustände und Immunstörungen
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Beschleunigte Alterungsprozesse: (Alters-) Sympathikotonie führt zu Alterungsvorgängen an diversen peripheren Geweben wie Herz, Leber, Pankreas, Darm und Skelettmuskulatur sowie erhöhter Ausschüttung entzündungsfördernder Botenstoffe verbunden mit chronischen, meist subklinischen Entzündungen. – Siehe hierzu auch das Interview mit Chefärztin Dr. Dr. med. Petja Piehler zum Thema „Chronische Entzündungen und moderne Zivilisationskrankheiten“ im Neuraltherapie-Blog vom 15.02.2013 (3).
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Eine große Herausforderung für die Diagnostik und Therapie besteht darin, dass die Umwandlung von emotionalem Stress in chronische organische Erkrankungen schleichend geschieht und zunächst kaum wahrgenommen wird. Die Menschen reagieren dabei teils sehr unterschiedlich und die Krankheitsbilder können sich gegenseitig beeinflussen. Alles dies kann dazu führen, dass chronische Erkrankungen erst relativ spät erkannt und behandelt werden und dass der zugrundeliegende Krankheitsmechanismus – emotionaler Stress – in einer medizinischen Behandlung häufig eine zu kleine Rolle spielt.
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Procain-Reset zur Therapie von Stresskrankheiten
Die intravenöse Infusion von Procain, Procain-Reset genannt, ist ein therapeutischer Ansatz zur Behandlung von Stressfolge-Erkrankungen. Procain wurde früher zur lokalen Betäubung eingesetzt, in der Lokalanästhesie jedoch vor 60 Jahren schon durch wirksamere Stoffe ersetzt. In der Neuraltherapie hingegen hat Procain seinen Platz bis heute behauptet. Es gilt als „praktisch nebenwirkungsfrei“ (4). Kein anderes für die Neuraltherapie geeignetes Mittel verfügt über diese optimale Kombination aus antientzündlicher und stimmungsaufhellender Wirkung wie Procain. Dies wäre auch eine Alternative für Patienten mit „Spritzenangst“.
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Abbildung: Schlüsselrolle von CRH als Mittler bei der Entstehung von Stressfolgen. – Copyright: Elsevier Limited, Oxford, UK
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Procain unterbricht vorübergehend eine Übererregung des Sympathikus und erlaubt dem autonomen Nervensystem, sich neu zu organisieren. Das ist schon lange bekannt. Ganz neu ist, dass Procain nicht nur über das autonome Nervensystem wirkt, sondern auch über das Eiweißhormon CRH des limbischen Systems. Dort, an der Amygdala, dem Mandelkern, wird bei Stress und Angst vermehrt CRH produziert, und damit vermehrt Cortisol, und über diese zentrale Ebene der Botenstoffe scheint Procain seine stimmungsaufhellende und seine antientzündliche Wirkung zu entfalten. Dabei wird Procain nicht im Sinne einer Dosis-Wirkungs-Beziehung wirksam, sondern über eine Art Reset-Wirkung auf Rezeptorebene. Das erklärt auch die manchmal tagelang anhaltenden klinischen Wirkungen nach nur einmaligem intravenösem Impuls.
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Fazit:
Procain-Infusionen sind eine wohlbegründete, noch ganz unbekannte neue therapeutische Option, um Stressfolge-Erkrankungen zu behandeln. Seit etwa 9 Jahren habe ich dieses Verfahren von Jahr zu Jahr weiterentwickelt, bei einer immer breiteren Palette der verschiedensten chronischen Erkrankungen, mit teilweise geradezu verblüffenden Erfolgen. Manchmal, aber recht selten, werden die Procain-Infusionen nur den Charakter von „Behandlungsversuchen“ haben. Oft dagegen kommt es zu vollständigen Heilungen. „Sehr häufig werden, nach meiner ärztlichen Erfahrung, Procain-Infusionen bei den Stressfolgekrankheiten zu nachhaltigen Linderungen sowie zu einer Verlangsamung des Krankheitsablaufs und damit zur Verbesserung der Lebensperspektiven des Patienten führen.“ (1)
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Quellen:
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(1) Hahn-Godeffroy J.D.: Procain-Reset: Ein Therapiekonzept zur Behandlung chronischer Erkrankungen, Schweiz Z Ganzheitsmed 2011;23:291–296
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(2) Thorbrietz, P.: Die neue Heilkunst, GEO, 22.07.2011
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(3) Fritzsche, C.: Chronische Entzündungen und moderne Zivilisationskrankheiten. „silent inflammation“ – Interview mit Chefärztin Dr. Dr. med. Petja Piehler, Neuraltherapie.Blog, 15. Februar 2013.
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(4) Fischer, L.: Neuraltherapie. In: Baron R., Kopert W., Strumpf M., Willweber-Strumpf A (Hrsg.): Praktische Schmerztherapie, 2. akt.u. erw. Aufl., Springer, Berlin – Heidelberg – New York 2011
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(5) Hahn-Godeffroy, J.D., Barop, H.: Zur Arzneimittelsicherheit von Procain. In: DT. ZTSCHR. F. AKUPUNKTUR 54, 4/2011, 28-29
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(6) Hahn-Godeffroy, J.D.: Procain in der Neuraltherapie nach Huneke, Literaturüberblick und zusammenfassende Bewertung. Der Allgemeinarzt, 15. Jg., 14/93, S. 876-833
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