Er schaffte es, selbst „harte Knochen“ um den Finger zu wickeln

Ian Schäfer, 1951-1989 (Foto:

Ian Schäfer, 1951-1989 (Foto: Uwe Boeck)

Ende der 80er- bis in die 90er-Jahre hinein waren die Arbeit und das Leben in der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) vom Leiden und Sterben vieler Kollegen überschattet. Einer von ihnen war Ian Schäfer, der im Vorstand und als Geschäftsführer die DAH mitgeprägt hat. Von Christine Höpfner,  Peter Stuhlmüller und Erika Sellmayr.

Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie erinnern wir uns an Menschen, die etwas im Umfeld von HIV und Aids bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Diese und andere Fragen zum Gedenken stehen in unserer Reihe mit Porträts von Verstorbenen.

Wir treffen uns in einer Kreuzberger Kneipe und tragen zusammen, was uns von Ian in Erinnerung geblieben ist. Da sind erst einmal vereinzelte Bilder: Dunkle Augen, aufreizender Blick, ein bemerkenswerter schwarzer Schnäuzer – uns fällt dazu spontan Freddy Mercury ein. Ian im knallroten Anorak am Fahrradständer vor der Bundesgeschäftsstelle in der Nestorstraße. Ian auf einem Hoffest als Lederkerl mit halbnacktem Oberkörper und nietenbesetztem Hundehalsband, die muskulösen Arme mit Lederbändern umschnürt. Ian vergnügt an seinem Schreibtisch, wie er uns mit wachem, spöttisch-ironischem Blick mustert. Kein Zweifel: Unser Chef war ein überaus attraktiver und charmanter schwuler Mann.

Ians Ausstrahlung und Lebenslust öffneten ihm und damit der Aidshilfe viele Türen

Und das wusste er auch zu nutzen: im Umgang mit seinen Mitarbeitern und Verbandskollegen, mit Vertretern der Fachöffentlichkeit wie auch den Verhandlungspartnern aus Politik und Verwaltung. Scheinbar mühelos schaffte er es, selbst „harte Knochen“ um den Finger zu wickeln und sie für sich einzunehmen. Als wir unlängst mit einer Kollegin aus alten Zeiten auf die ersten DAH-Jahre und natürlich auch auf Ian zu sprechen kamen, seufzte sie „Ach ja, dem lagen die Männer- und Frauenherzen doch nur so zu Füßen!“

Ian Schäfer

Ian hat Aufgaben und Ziele wie auch das Selbstverständnis der Aidshilfe mitgeprägt (Foto: DAH)

Ians Ausstrahlung und Lebenslust öffneten ihm und damit der Aidshilfe viele Türen. „Ian Schäfer war es, der als Gründungsvorstand die Kontakte mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung anbahnte und sie über Jahre entscheidend mittrug“, erinnerte BZgA-Direktorin Dr. Elisabeth Pott in ihrer Rede auf dem diesjährigen Empfang zum 30-jährigen Bestehen der DAH. Zusammen mit Gerd Paul und Jürgen Roland gelang es ihm, die Förderung der Deutschen AIDS-Hilfe aus dem Bundesetat sicherzustellen und mit der staatlichen BZgA eine bis heute tragfähige Präventionspartnerschaft auszuhandeln. Und er hatte maßgeblich am Aufbau und der Konsolidierung der Bundesgeschäftsstelle und ihrer Verankerung im DAH-Verband mitgewirkt.

Er bestand auf einem kritischen sozialmedizinischen Aufklärungsbegriff

Seinen Stempel drückte er der Aidshilfe nicht zuletzt auch als Arzt und erster DAH-Fachreferent für Medizin auf, der „unverwechselbar Erfahrungen und Selbstverständnis der Betroffenen zur politisch-fachlichen Kritik profiliert hat“ und „auf einem kritischen sozialmedizinischen Aufklärungsbegriff bestand“, wie es im Nachruf des DAH-Freundes- und Kollegenkreises hieß. Er brachte die DAH-Standpunkte in Fachgremien ein und verdeutlichte sie im Nationalen AIDS-Beirat (NAB), wo sie größtenteils auch durchgesetzt werden konnten. So einigte sich der NAB beispielsweise darauf, dass von HIV-Infizierten keine Gefahr bei der Berufsausübung bestehe und deshalb ein obligatorischer Test abzulehnen sei.

Auf Ian gehen die ersten Medizinseminare der DAH zurück, in denen renommierte Ärzte von ihren Erfahrungen in der Behandlung opportunistischer Infektionen berichteten und mit Teilnehmern aus der Community diskutierten, und er brachte eine Seminarreihe zu Zusatztherapien aus der Alternativmedizin auf den Weg. Die gegen HIV gerichtete Therapie befand sich damals erst im Experimentierstadium – alle der damals diskutierten und auch eingesetzten Medikamente hatten ihre Wirksamkeit (noch) nicht bewiesen.

Mit ihm ist eine entscheidende Phase der DAH-Geschichte verbunden

Im Gespräch über Ian wird uns schnell wieder bewusst, dass mit ihm eine entscheidende Phase der DAH-Geschichte verbunden ist. Er gehörte zu den Aidshilfe-Engagierten der ersten Stunde, kam aber nicht aus der linken Schwulenbewegung, sondern aus der „bürgerlichen Ecke“ und wurde erst durch Aids politisiert. In jenen Jahren stand zu befürchten, Aids könnte als Vorwand für erneute Repressionen gegen Schwule und andere Minderheiten genutzt werden. Die Medien schürten Ressentiments, Angst und Panik, der SPIEGEL strickte seinen Aids-Mythos und Bayerns CSU zog gegen Aids und die „Risikogruppen“ in den Krieg.

Die 80er Jahre waren von Horrorszenarien und Furcht vor Repression beherrscht (Foto: Gienter Hamich, pixelio.de)

Die 80er-Jahre waren von Horrorszenarien und Furcht vor Repression beherrscht (Foto: Gienter Hamich, pixelio.de)

Peter Gauweiler, damals Staatssekretär des bayerischen Innenministeriums, forderte die Meldepflicht für Infizierte und setzte den berüchtigten „Bayerischen Maßnahmenkatalog“ auf, der Zwangstests für Prostituierte, Drogenabhängige und angehende Beamte vorsah (und dann zum Glück vom Bundesrat mit großer Mehrheit abgelehnt wurde). Auch in anderen Ländern gab es Verfechter einer rigorosen Seuchenpolitik. Schweden beispielsweise erwog, „uneinsichtige“ HIV-Infizierte zu internieren. Wir erinnern uns an unsere Protestaktion gegen die Gauweiler-Politik: ein eiskalter, verschneiter Wintertag und Ian inmitten seines „Gefolges“ beim Kondome-Verteilen in Münchens Fußgängerzone.

Er war zweifellos eines der Gesichter der DAH

Zweifellos war Ian eines der Gesichter der DAH: Er diskutierte in TV-Talkshows, gab Interviews, stand in Kontakt mit Repräsentanten internationaler Aidsorganisationen und vertrat die DAH bis zu seinem Tod im Nationalen AIDS-Beirat. Er stieg gern „in die Bütt“, suchte die offene Kontroverse und nutzte jede Gelegenheit, um mit Leidenschaft für die Sache der Betroffenen und Bedrohten – allen voran schwule Männer – zu streiten. In der Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen verschaffte er sich weit über den fachlichen Rahmen hinaus Respekt und Anerkennung.

Ian Schäfer

Die Bedürfnisse und Wünsche schwuler Männer lagen Ian besonders am Herzen (Foto: Uwe Boeck)

Mit Medizinern jedoch schien er bisweilen seine liebe Not zu haben. Ian hatte nicht promoviert, was manche Doktoren ihn wohl auch spüren ließen. Zumindest bedauerte er gelegentlich, dass er nicht über die höheren Weihen seiner Zunft verfügte. Freilich gab es damals in der Ärzteschaft auch regelrechte Schwulenhasser, was vielleicht auch mit hineinspielte.

Dass er HIV-positiv war, gab er in der DAH erst sehr spät bekannt. Wie lange er schon von seiner Infektion wusste, hatte er wohl nur seinen engsten Freunden erzählt. Die Zeichen der Zeit standen gegen ein positives Coming-out. So mancher schwule Mann ging einfach davon aus, dass er infiziert war und ließ sich gar nicht erst testen. Wozu auch: Für positiv Diagnostizierte gab es ohnehin keine kausale Therapie gegen HIV. Die DAH vertrat folglich den Standpunkt, HIV-Tests bei symptomlosen Menschen verstießen gegen die ärztliche Ethik, und im Verband stritt man sich erbittert über die Frage, ob Aidshilfen selbst den Test anbieten dürfen – was einige wenige taten und gegen eine überwältigende Mehrheit verteidigten.

Die Krankheit schenkte ihm nichts

Eines Tages teilte Ian uns mit, er müsse zum Augenarzt, weil er Sehprobleme habe. Man hatte, soweit wir uns entsinnen, eine Toxoplasmose diagnostiziert, damals eine der häufigsten opportunistischen Infektionen im Aids-Vollbild. Ian kam nicht mehr in die Bundesgeschäftsstelle zurück. Das Klinikum Steglitz war seine Endstation.

Das Klinikum Steglitz war Ians Endstation (Foto: Peter Freitag, pixelio.de)

Das Klinikum Steglitz war Ians Endstation (Foto: Peter Freitag, pixelio.de)

Die Krankheit schenkte ihm nichts. Wir sehen uns, wie wir fassungslos an Ians Krankenbett stehen: sein Gesicht unförmig aufgedunsen von Medikamenten, der Schnäuzer abrasiert, der Kopf fast kahl. Wüssten wir nicht, dass er es ist, wir hätten ihn nicht erkannt. Wir reißen uns zusammen, sprechen ihn an. Er weiß sofort, wer da ist, auch wenn er uns nicht mehr sehen kann: Ian ist blind. Das Sprechen macht ihm unendliche Mühe, aber er schafft es noch, einen von uns beim Namen zu nennen und leise mit einem Anflug spöttischen Lächelns „Jaja!“ zu sagen. Da blitzte er noch einmal auf, der alte Ian…

Einige seiner Vertrauten blieben dem Todkranken fern, weil sie seinen Anblick nicht hätten ertragen können. Und vielleicht wollten sie es ja auch ihm ersparen, dass man ihn in diesem Zustand sah.

Ob Ian die Trauerfeier gefallen hätte, wissen wir nicht

Die Trauerfeier für Ian im Berliner Kulturzentrum „Pumpe“ war die erste, die die DAH für einen Verstorbenen aus ihren Reihen ausgerichtet hatte. Ein großer, von unzähligen Teelichtern beleuchteter Saal voller Menschen, Trauerreden, Umarmungen, Tränen. Rosa von Praunheim und seinem Filmteam hatte man es erlaubt, einige Impressionen in seinem den Aidsaktivisten gewidmeten Film „Feuer unterm Arsch“ zu verwenden.

(Foto: mephys, pixelio.de)

Für uns Bayern war’s “a schöne Leich” (Foto: mephys, pixelio.de)

Ob Ian die Feier gefallen hätte? Wir wissen es nicht, er hatte dazu nichts verfügt. Für uns Bayern war’s „a schöne Leich“, wozu immer auch skurrile Momente gehören. Und die gab es in der „Pumpe“ durchaus und sorgten bei aller Trauer auch für Heiterkeit.

Ein Berliner Boulevardblatt titelte in einem Nachruf den „Tod des Aidsengels“. So hätte Ian sich wohl kaum genannt wissen wollen. Er war ja nun weiß Gott nicht sentimental, auch wenn er auf Barbara Streisand stand und ihren Hit „The way we were“ zu seinem Favoriten erkoren hatte.

Wäre Ian noch am Leben, hätte er im November seinen 62. Geburtstag gefeiert und gehörte – sofern immer noch bei uns in der DAH – wie wir zum Club der „Altvorderen“.

 

Thema Trauern und Erinnern auf aidshilfe.de:

„Ihre Gedanken und Worte leben auch heute noch weiter“

Letzte Ruhe unter Freunden

Orte des Erinnerns und des Gedenkens

„Der Tod ist das zweite große Fest im Leben“ – Interview mit Matthias Hinz

„Trauer erwächst aus Liebe, und deshalb vergeht sie auch nie ganz“ – Erinnern und Gedenken an Kirsten Schulz

„Ihr sollt nicht trauern, sondern weiter euren Träumen und Hoffnungen folgen“ – Erinnern und Gedenken an Stephanie Schmidt

Aufbruch in die Schönheit – Erinnerung an Detlev Meyer

„Wenn sie irgendwo spukt, dann hier“ – Erinnerung an Melitta Sundström

 


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