Eine Grundsozialisation in der Psychotherapie lautete früher, dass der Psychotherapeut sich “Neutral” zu geben habe, das heißt, dass er alles, was der Patient ihm sagte, wie eine weiße Projektionsfläche auf sich scheinen ließ, ohne es zu bewerten, ohne eine eigene Stellung zu beziehen und ohne sich selbst zu positionieren. Erlaubt waren lediglich gleichschwebende Akzeptanz und uneingeschränktes Verständnis. Explizit gewünscht war und ist immer noch die “Validierung von Gefühlen”, also etwa die Aussage: “Ich kann sehr gut nachempfinden, dass sie sich hierdurch verletzt gefühlt haben.” Also grundsätzlich Zustimmen, Akzeptieren und sich selbst und seine eigenen Wertungen zurückhalten.
Freud hat das noch so durchgezogen.
Aber in einer heutigen Einzeltherapie muss man sich schon oftmals fragen, ob man dem Patienten mit dieser “Therapeutischen Abstinenz” wirklich den größten Dienst erweist.
Spätestens in der Paartherapie wird man aber regelmäßig auf die Probe gestellt, wenn die beiden Partner grundsätzlich unterschiedliche Varianten ein- und derselben Geschichte berichten. Dann beginnt der Therapeut gerne einen gewissen Eiertanz: “Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Sie, Hr. X, sich ungerecht behandelt gefühlt haben, und zugleich Sie, Fr. X, das Gefühl gehabt haben, ihr Mann habe übertrieben reagiert…”
Kann man alles machen.
Aber dann gibt es irgendwann mal Situationen, zu denen man eine nicht zu leugnende innere Haltung hat, die man auch ganz gerne äußern würde. Extrembeispiel: Hr. X schlägt seine Frau. Da möchte ich dann nicht mehr sagen: “Hr. X, ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sie sich immer, wenn sie betrunken sind, von alltäglichen Aussagen ihrer Frau gekränkt fühlen, und dann einfach mal zuschlagen.”
Spätestens hier ist jeder automatisch einverstanden, dass es mit der Neutralität auch so seine Grenzen hat, und dass jetzt mal “Authentizität” gefragt ist; also schlicht und ergreifend zu sagen, was man wirklich empfindet und denkt.
Authentizität gilt auch ganz grundsätzlich als gut und richtig. Aber, um mal die Wahrheit zu sagen, “Authentizität” auf der einen Seite und “Neutralität” oder “Therapeutische Abstinenz” auf der anderen Seite, schließen sich oft aus.
Ich selbst finde schon, dass man das, was einem ein Patient sagt, erst mal so annehmen soll, wie er es sagt. Auch Validierung ist gut, wo sie angemessen ist. Und eine Paartherapie kann man nicht sicherer an die Wand fahren, als indem man sich auf die Seite des einen und gegen den Anderen schlägt.
Aber wenn Sie mich fragen, sollte nach einem Zugang unter den Zeichen der Neutralität dann eine wertschätzende Authentizität folgen. Sonst kann ich als Patient doch gleich mit einer Flasche Weichspüler sprechen. So viel Mut darf man meiner Erfahrung nach als Psychotherapeut ruhig zeigen. Wenn ich mir einen Psychotherapeuten aussuchen müßte, würde ich höfliche und wertschätzende Umgangsformen voraussetzen. Und dann sollte er ehrlich zu mir sein. Authentisch. Das hielte ich schon aus.
Ich glaube, dass Therapien sehr oft genau dann vorwärts kommen, wenn die beiden Menschen, die in der Therapie zusammen kommen (Patient und Therapeut), ehrlich zueinander sind. Wertschätzend und ehrlich.
Welche Erfahrungen habt ihr mit Psychotherapeuten gemacht? Was ist oder wäre Euch wichtig?
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