Anfang Dezember 2013 besuchte eine Gruppe von Fachkräften aus dem Haft- und Drogenbereich die erste Diamorphin-Ambulanz in Berlin. DAH-Praktikantin Lisa Paping war mit dabei
Besuch in der Berliner Diamorphin-Ambulanz: Treffpunkt 13:35 auf einem U-Bahnhof im Norden Berlins. Die Adresse wird nicht bekanntgegeben, nähere Informationen zum Ablauf oder eine Teilnehmerliste gibt es auch nicht. Doch irgendwie finden wir Wartenden in einer Gruppe zusammen. „Sozialarbeiter unter sich, was? Da erkennt man sich!“, ruft eine Frau amüsiert, als sie dazustößt. Ich sage nichts und fühle mich als Politik-Studentin und Praktikantin bei der Deutschen AIDS-Hilfe ein bisschen fehl am Platz. Wahrscheinlich bin ich die einzige der Gruppe, die noch nie einen Drogenkonsumraum von innen gesehen hat.
Als wir vollständig sind, macht sich die 15-köpfige Gruppe unter Leitung von Bärbel Knorr von der Deutschen AIDS-Hilfe auf den Weg. Der Eingang zur Praxis ist unscheinbar, am Klingelschild steht einfach nur „PATRIDA, Dr. Thomas Peschel“. Peschel möchte seine Praxis mit größtmöglicher Diskretion behandeln: zum Schutz für die Patienten, aber auch, um Konflikte mit der Nachbarschaft zu vermeiden.
(K)Eine Praxis wie jede andere
Die Räumlichkeiten sehen aus wie in vielen anderen Arztpraxen auch. Heller, freundlicher Eingangsbereich mit Empfang, große Fenster, weiße Wände, dezent-sterile Atmosphäre. Das medizinische Personal ist offen und freundlich, es gibt mehrere Behandlungszimmer, einen Aufenthaltsraum, ein Büro. Wer sich zufällig in Dr. Peschels Praxis verirrt, würde niemals auf die Idee kommen, dass der leitende Arzt Diamorphin – das heißt pharmazeutisch hergestelltes Heroin – an seine Patienten ausgibt. „Diamorphingestützte Substitutionsbehandlung“ heißt das Konzept, das in Deutschland seit 2009 gesetzlich erlaubt ist und sich an schwerstabhängige Drogenkonsumenten richtet. Wenn bei den Patienten Entzüge fehlgeschlagen sind und auch eine klassische Substitutionstherapie mit Methadon nicht angezeigt ist, übernehmen die Krankenkassen seit 2010 die Kosten für die Behandlung.
Dr. Peschel erzählt, aufgrund welcher persönlicher Überzeugungen er seine Praxis ins Leben gerufen hat. Die Zuhörerinnen und Zuhörer haben zum Großteil selbst mit Drogengebrauchern zu tun, viele arbeiten im Justizvollzug oder im kriminologischen Dienst, in Aidshilfen, Drogenprojekten oder Suchtberatungen. Trotzdem wirken die meisten erst einmal sehr erstaunt und auch ein bisschen beeindruckt, denn dieser Ansatz scheint in der deutschen Drogenpolitik noch nicht weit verbreitet zu sein.
Peschel geht es nicht primär darum, die Suchtpatienten von ihrer Abhängigkeit zu befreien. Als Hauptproblem sieht er vielmehr ihre geistige und emotionale Verfassung an: Fast alle haben schwere psychische Erkrankungen wie Borderline- oder dissoziale Persönlichkeitsstörungen und Depressionen, kaputte Familien, Knasterfahrungen, Beschaffungskriminalität und erfolglose Entzugstherapien sind keine Ausnahmen. Für diese Menschen sei Diamorphin ein ideales Behandlungsmittel, sagt Peschel. „Es hilft, das alltägliche Leben zu meistern und nicht den Antrieb zu verlieren.“ Dass es sich um eine psychiatrische Praxis und nicht um eine einfache Diamorphin-Ausgabestelle handelt, betont er mehrfach. Kurz: Heroin ist das Medikament, Psychotherapie die Behandlung und PATRIDA damit eine „stinknormale Praxis“.
Das Hauptproblem sind psychische und emotionale Störungen
Im Gegensatz zu anderen Drogenprojekten scheint es hier keine strengen Regeln zu geben. Die Patienten dürfen ihre Dosis – natürlich in Absprache mit dem Arzt – selbst festlegen. Laut Peschel funktioniert das besser als man denkt, denn fast jeder kommt mit dem Wunsch, sein Leben wieder selbstständig in die Hand zu nehmen: „Wenn man den Patienten die Verantwortung gibt, dann nehmen sie die.“ Strafen gibt es keine, und das Diamorphin wird grundsätzlich nicht als Druckmittel für regelkonformes Verhalten eingesetzt. „Was müsste denn passieren, dass ein Patient aus Ihrer Behandlung fliegt?“ fragt ein Besucher. „Weiß ich nicht“, sagt Peschel lächelnd. „Es ist noch nie vorgekommen, und ich weiß nicht, was jemand machen müsste, damit er nicht mehr in meine Sprechstunde kommen kann.“ Viele seiner Patienten hätten anfangs selbst auch ein Problem damit, seinen Behandlungsansatz zu akzeptieren, gibt Peschel zu. Die meisten wollten endlich „von der Droge weg“, fühlten sich als „Junkies“ und hätten Schuldgefühle, illegalisierte Drogen zu konsumieren.
Mir wird langsam klar, dass Peschels Meinung völlig dem gesellschaftlichen Image von Drogen und Sucht widerspricht. Und dass seine Behandlungsmethode grundlegend andere Zielsetzungen hat als die klassische Drogenpolitik. Es gibt keine Bevormundung, keine strengen Regeln, keinen Druck, keine Konditionierung. Die Zielsetzung ist nicht, möglichst bald einen Rückgang der Abhängigen in den Statistiken zu verzeichnen. Im Zentrum scheint wirklich das psychische Wohlergehen der Patienten zu stehen. Das klingt alles sehr überzeugend, finde ich. Aber wie funktioniert das in der Realität?
Peschels Methode funktioniert prinzipiell anders
Bei der Personalsuche schloss Peschel absichtlich Menschen mit Erfahrungen im Suchtbereich aus. Die seien schon „verbildet“ und hätten Vorurteile gegenüber Menschen mit Sucht, was der Arbeit in seiner Praxis nicht zugutekäme. In dem gemischten Team arbeiten nun drei Ärzte und neun nichtärztliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Praxis ist seit Juli 2013 jeden Tag geöffnet, denn die Patienten müssen sich zwei- bis dreimal täglich ihre Dosis Diamorphin abholen. „Take Home“ gibt es nicht, der Stoff darf nur unter Aufsicht gespritzt werden. Bis zu 100 Patientinnnen und Patienten kann die Praxis aufnehmen, zurzeit sind es rund 40.
Die Praxis soll nicht nur eine Ausgabestelle und ein Behandlungsort, sondern auch ein Raum zum Verweilen und Entspannen sein: Im Aufenthaltsbereich kann man sich Kaffee machen, einmal pro Woche gibt es Kuchen, es gibt einen Ruheraum und eine Kreativ-Werkstatt. Außerdem können die Patienten in einer geschlossenen Kabine rauchen.
Die Besuchergruppe hat viele Fragen, Peschel beantwortet sie alle geduldig. Auch wenn in manchen Kommentaren eine gewissen Skepsis zu erkennen ist, ob Dr. Peschels theoretischer Ansatz auch in der Praxis so gut funktioniert, überwiegen doch die Neugier und die Anerkennung für seinen Einsatz. Schlussendlich bleiben wir doppelt so lange wie geplant.
Die Anforderungen an die Patienten sind sehr hoch
Eine Besucherin wundert sich, warum nicht mehr als nur ein paar Dutzend Berlinerinnen und Berliner das Angebot in Anspruch nehmen. Sei die Nachfrage nicht viel größer? Leider seien die Auflagen sehr streng, erklärt Peschel. Unter anderem müssen die Patienten über 23 Jahre alt und seit mindestens fünf Jahren abhängig sein, zwei gescheiterte Therapien hinter sich haben und sechs Monate erfolglos substituiert gewesen sein. Auch die Anforderungen während der Behandlung sind sehr hoch: Die Patienten müssen die Bereitschaft mitbringen, jeden Tag in die Praxis zu kommen – für die Klienten, die aus dem Großraum Berlin kommen, bedeutet dies zum Teil tägliche Fahrtzeiten von über vier Stunden.
Dass Peschel in seiner Berliner Praxis eine kleine Revolution im Umgang mit Drogengebrauchern anführt, ist ihm nicht anzumerken. Er spricht ruhig, bedächtig und unaufgeregt, als sei seine tägliche Arbeit die normalste der Welt. Seine pragmatische Herangehensweise und positive Einstellung finde ich beeindruckend. Auch wenn Dr. Peschel vielleicht nichts Grundlegendes an der deutschen Drogenpolitik ändern kann, bewirkt er mit Sicherheit täglich viel für jeden seiner 40 Patienten .