Warum ist Russland so homophob, und warum hat sich Tschechien so liberal entwickelt? Die herausragende Sonderausgabe der Zeitschrift „Ostblock“ zum Thema „Homosexualität und ihre Feinde“ gibt Auskunft. Von Axel Schock
Dieser Band war überfällig. In den vergangenen Jahren häuften sich die Schreckensmeldungen aus osteuropäischen Ländern: Berichte über wachsende Ausgrenzung und neue Kriminalisierung von Homosexuellen und offene Gewalt gegen sie. Woher kommt all dieser Hass? Worin wurzelt er, wer schürt ihn und wem nützt er? Die Sonderausgabe der interdisziplinären Zeitschrift „Ostblock“ liefert auf rund 220 Seiten geballte Informationen, Hintergründe, Fotos und Übersichtskarten, Essays und Interviews.
Der Umgang mit der homosexuellen Minderheit wird am Beispiel dreier osteuropäischer Länder überprüft: des religiös und kulturell in der orthodoxen Tradition stehenden Russlands, des römisch-katholisch geprägten Polens sowie Tschechiens, das sich politisch und gesellschaftlich im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten wohl am weitesten an Westeuropa angenähert hat.
Verklausulierte Verarbeitung gleichgeschlechtlichen Lebens in der russischen Literatur
Das thematische Spektrum der Aufsätze ist weit gefasst: Da spürt beispielsweise der Schweizer Professor für Kultur und Geschichte Russlands, Prof.-Dr. Ulrich Schmid, den raren Zeugnissen der russischen Literatur nach, die oft nur verklausuliert gleichgeschlechtliches Lieben und Leben verarbeitet, und eine Vertreterin der Organisation Quarteera berichtet über Homosexuelle in der Diaspora.
Der Historiker Dan Healey zeichnet in seinem Beitrag „Beredtes Schweigen“ die Entwicklung der homosexuellen Subkultur im Russland des 20. Jahrhunderts nach. Er erzählt von den kleinen Freiräumen, die ab den 1870er-Jahren in Moskau und St. Petersburg für homosexuelle Männer entstanden waren – mit Badehäusern, Treffpunkten für Sex suchende Matrosen und Soldaten sowie einschlägigen Bällen.
Blüte der homosexuellen Subkultur
Was hierzulande vielen wahrscheinlich kaum bewusst sein dürfte: Sowjetrussland war in Sachen Homosexuellenrechte für lange Zeit Vorreiter in Europa. Seit der Oktoberrevolution waren – anders als beispielsweise in Deutschland oder Großbritannien – gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Männern straffrei. Und die sowjetischen Gesundheitsbehörden hatten begeistert die fortschrittlichen Ideen des Berliner Sexualwissenschaftlers und Homosexuellen-Aktivisten Magnus Hirschfeld aufgegriffen.
Doch spätestens mit den Erweiterungen des sowjetischen Reiches in den 1920er-Jahren um neue Republiken wie Aserbaidschan und Usbekistan war die homosexuellenfreundliche Stimmung gekippt. Die Lokalitäten der Subkultur wurden geschlossen oder verstaatlicht. 1933 war die „Sodomie“ in allen Sowjetrepubliken bereits wieder Straftatbestand.
Für die meisten Leser sicherlich der spannendste und erhellendste Aufsatz unter den 14 Textbeiträgen dieses in jeder Hinsicht lesenswerten und lehrreichen Bandes stammt von Igor Kon. Der Soziologe und Sexualwissenschaftler widmet sich in der 2007 erstveröffentlichten und schlicht „Lackmustest“ betitelten Studie der Homophobie in Russland.
Die Hälfte der Russen begegnet Homosexuellen argwöhnisch oder gar feindlich
Anhand repräsentativer Umfragen aus den Jahren 1998 bis 2005 konstatiert Kon eine fundamental feindselige Haltung der russischen Gesellschaft gegenüber sexuellen Minderheiten. Nur für 20 Prozent der Befragten ist Homosexualität eine gleichwertige sexuelle Orientierung, über die Hälfte begegnen demnach Schwulen und Lesben argwöhnisch oder gar feindlich.
Weil die große Mehrheit der russischen Bevölkerung keinen persönlichen Kontakt zu Homosexuellen habe, werde die durch eine traditionell homophobe Erziehung und die negative Berichterstattung der Massenmedien manifestierte Feindseligkeit gegenüber Schwulen und Lesben zementiert. Die autoritäre Regierung mache sich diese tendenziell fremden- wie homosexuellenfeindliche Stimmung, wie sie vor allem bei den weniger Gebildeten und in unteren Klassen zu finden sei, geschickt zunutze, schreibt Natalija Zorkaja vom unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Levada-Zentrum.
Der Staat nutzt die homophobe Stimmung in der Bevölkerung
„Das Regime hat ein Interesse daran, diese Stimmung aufrechtzuerhalten und anzuheizen, denn so kann die Staatsmacht die Aggression und Unzufriedenheit der leicht steuerbaren Bevölkerungsmehrheit kanalisieren, sie von sich fernhalten und auf die Schwächsten, die ‚Fremden‘, die sozialen Außenseiter umlenken.“
Die Regierung instrumentalisiere dabei nicht nur ultranationalistische Bewegungen für sich, sondern finde auch Unterstützung bei der russisch-orthodoxen Kirche. Diese habe in Russland für sich genommen keinerlei gesellschaftlichen Einfluss, so Nikolay Mitrokhin von der Bremer Forschungsstelle Osteuropa in seinem Beitrag, sie sei aber willfähriges Instrument und willkommener Partner des Regimes. Die homosexuellenfeindliche Haltung mit einer zum Teil martialischen Kampfrhetorik sei dabei allerdings keineswegs theologisch untermauert, sondern fuße auf einer nationalistischen, anti-westlichen Grundhaltung.
Dass in anderen osteuropäischen Ländern auch völlig konträre Entwicklungen möglich sind, zeigt der Band am Beispiel des liberalen Tschechiens. Durch den Antiklerikalismus hatte dort die Moralethik der Kirchen wenig Einfluss auf die Bevölkerung. Nach den Jahren des Sozialismus, in denen Homosexualität weitgehend tabuisiert war, zwang Mitte der 1980er-Jahre die Aidskrise zum Umdenken. Um Prävention und Aufklärung betreiben zu können, wurde nicht nur der erste Homosexuellenklub mit höchststaatlicher Genehmigung gegründet, sondern auch die strafrechtliche Gleichstellung auf den Weg gebracht.
Erneute Repressalien unter Polens kommunistischer Regierung
Ganz anders wiederum die Situation bei den polnischen Nachbarn. Auch wenn Homosexualität bereits 1932 (!) aus dem Strafgesetzbuch verschwunden war (und Polen später als einziges Land des Warschauer Pakts die sowjetische Kriminalisierung nicht übernahm), änderte dies nur wenig an der negativen Grundeinstellung von Gesellschaft, Behörden, Polizei und Bürgermiliz, wie Tomasz Kitlinski und Pawel Leszkowicz in ihrem Aufsatz herausstellen.
Unter der kommunistischen Regierung waren Homosexuelle wieder tiefgreifenden Repressalien ausgesetzt – bis hin zu „Rosa Listen“, Massenfestnahmen und Erpressungen.
Der EU-Beitritt Polens verschärfte die Situation
Einen neuen Höhepunkt der Homosexuellenfeindlichkeit zeichnete sich in Polen in den Jahren nach 2004 ab. Auslöser sei, für viele vielleicht überraschend, ausgerechnet der EU-Beitritt gewesen, so die beiden Autoren. Ähnlich wie im heutigen Russland versuchte auch in Polen eine konservative Gegenbewegung, das Land vor westlichen Einflüssen zu schützen.
Erst jetzt, nachdem die rechtskonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ von Lech Kaczyński nicht mehr am Ruder ist und auch Roman Giertych, Vorsitzender der Liga Polnischer Familien und bis 2007 Familienminister, an politischem Einfluss verloren hat, gibt es erste Lichtblicke. So etwa ein 2001 verabschiedetes Antidiskriminierungsgesetz, das Homosexuelle zumindest in arbeitsrechtlichen Fragen schützt. Nicht mehr als ein Anfang, aber mit hohem Symbolwert.
Manfred Sapper/Volker Weichsel (Hg.): „Spektralanalyse. Homosexualität und ihre Feinde“. Osteuroap Heft 10/2013, 240 Seiten, Berliner Wissenschaftsverlag, 20 Euro
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