Xarelto – Mittel der Wahl oder Mittel der Qual?

Xarelto: ein weiterer Milliarden-Produkt der Firma Bayer. Aufgabe: Blutgerinnungshemmer. Das bekannteste (und mit das älteste) Produkt aus dieser Medikamentenklasse ist Marcumar, bei dem der Patentschutz schon längst abgelaufen ist.

Aber man ist ja findig und bringt wieder ein Medikament auf den Markt (das natürlich wieder Patentschutz hat) und das dem Wohle der Patienten dienen soll. Und das Ganze natürlich “besser” als z.B. das “alte” Marcumar. Aber: Es gibt es eine kleine Palette von Ungereimtheiten und Fragen, die für den Patienten mit mehr als nur einem Schrecken enden könnten…

Eine evidenzbasierte Bayerische Unverschämtheit?

Xarelto ist ein Medikament, das sehr viele “Eigenschaften” hat – ein wahres “Wundermittel”. Denn was ich so bei der Recherche fand, wunderte mich schon sehr. Das fängt bereits damit an, dass es für diese Substanz anscheinend überhaupt keine Unterlagen gibt, die die Sicherheit und Wirksamkeit über einen längeren Zeitraum beurteilen – jedenfalls habe ich keine gefunden. Und die Daten die es gibt, wurden wohl (wieder einmal?) an einer leidenden Bevölkerung erhoben, ohne Honorar für die “Versuchskaninchen” und ohne Verantwortung für den Konzern, wenn die Sache in die Hose gehen sollte (https://en.wikipedia.org/wiki/Rivaroxaban – Long term safety).

Auch die Liste der Nebenwirkungen ist lang und unterscheidet sich weitestgehend nicht von alten Präparaten. Bayer beansprucht stolz eine etwas geringere Blutungsneigung unter Xarelto-Einnahme, als zum Beispiel unter Marcumar. Wer aber jetzt glaubt, ein todsicheres Argument für ein Umsteigen von Marcumar auf das “neue” Bayer-Produkt in der Hand zu haben, der sollte folgendes bedenken: Blutgerinnungshemmer sind nicht einfach zu dosieren. Das gilt auch für Marcumar. Aber bei einer Überdosierung von Marcumar kann man immerhin mit hochdosiertem Vitamin K und der Gabe von Gerinnungsfaktoren den begangenen “Fehler” einigermaßen korrigieren. Bei Xarelto ist das derzeit nicht möglich. Es ist nicht zu fassen, aber für diese Substanz gibt es kein Zurück – kein Antidot. Bei einer Überdosierung ist der betroffene Patient für die nächsten 24 Stunden und länger nach seiner letzten Dosis seinem Schicksal überlassen. Es gibt eine Studie, bei der die Gabe eines Prothrombin-Komplex-Konzentrats eine antidotähnliche Wirkung bei 12 gesunden Probanden zeigte, was aber kaum als signifikante Aussage für den klinischen Gebrauch gewertet werden kann (Reversal of rivaroxaban and dabigatran by prothrombin complex concentrate: a randomized, placebo-controlled, crossover study in healthy subjects). Jedenfalls würden Studien dieser Art mit einem Naturheilmittel sofort als qualitativ minderwertig und somit ohne Bedeutung abgetan.

Ein weiteres Highlight dieser Xarelto-Bayer-Substanz kommt auf den Patienten zu, wenn er das Medikament nicht mehr nehmen möchte. Denn dann läuft er Gefahr, dass er sich das holt, was er mit der Einnahme vermeiden wollte: Ein in diesem Fall nachträglich erhöhtes Risiko für einen Schlaganfall. Die Minimalanforderung in diesem Szenario ist die Weiterführung der Antikoagulationstherapie mit einem anderen adäquaten Gerinnungshemmer – oder am besten gleich mit dem Bayer-Produkt, gell? Es wird jeden Patienten besonders freuen, wenn er erfährt, dass ein Absetzen seines sauteuren Gerinnungshemmers von Bayer zu einem Schlaganfall führen kann. Sehr wahrscheinlich führt alleine die Nachricht von dem Rebound-Effekt bei der Bayer-Substanz schon zu einem solchen.

Andere “schöne” Nebenwirkungen (mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent): Anämien, Wundsekretionen, Pruritus (Juckreiz), Gliederschmerzen, Schwindel, Kopfschmerzen, Synkopen (Kreislaufkollaps), Bauchschmerzen, periphere Ödeme, Schwächezustände und Energielosigkeit.

Dazu gesellen sich noch medikamentöse Wechselwirkungen mit fast allem, was in der Apotheke Rang und Namen hat.

Ein Hoch auf die evidenzbornierten Zulassungsstudien

Ein Hauptvorteil von Xarelto besteht mitnichten in einer besseren Wirksamkeit, sondern in weniger Nebenwirkung im Vergleich zu den alten Gerinnungshemmern. So gesehen in der „Rocket-AF-Studie“ aus dem Jahr 2010 (die übrigens auch den Rebound-Effekt bestätigte). Eine andere Arbeit, die MAGELLAN-Studie, jedoch zeigte das komplette Gegenteil: Unter Xarelto gab es alleine am 10. Tag der Studie schon 5 Fälle von Blutungen, die für die Betroffenen tödlich endeten. Nach 35 Tagen erlagen insgesamt 7 Patienten ihren Blutungen, gegenüber (“nur”) einem Fall bei der Vergleichssubstanz Enoxaparin (Handelsnamen Clexane®, Lovenox®, Xaparin), einem niedermolekularen Gerinnungshemmer ohne Lizenz zum Geld drucken, äh… Patentschutz.

Eine weitere Studie zeigte ebenfalls, dass man von der Substanz wenig Gutes zu erwarten hat: Die ATLAS ACS 2 TIMI 51 Studie (Einfluss auf das akute Koronarsyndrom), eine Studie, die von Johnson & Johnson durchgeführt wurde (http://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00809965?term=rivaroxaban+AND+acute&rank=2), zeigte keine Wirkung auf Herzinfarkte und Schlaganfälle. Eine Verdoppelung der Dosis von zweimal 2,5 Milligramm pro Tag auf zweimal 5 Milligramm ergab auch keine günstigen Effekte auf die Mortalität, erhöhte dafür aber die Nebenwirkungen wie Blutungen. Dazu kam dann noch, dass in dieser Studie eine ganze Reihe von Patienten ausfielen und die Nachverfolgung der Patienten nur lückenhaft war – ein echtes Glanzstück in Sachen wissenschaftlicher Studie seitens der betreibenden Pharmafirma.

Heute geht man (meines Wissens) davon aus, dass Patienten mit einem zuvor durchgemachten Schlaganfall oder einer Transitorischen ischämischen Attacke (eine Durchblutungsstörung im Gehirn), nicht für eine Therapie mit dem Medikament geeignet sind. Das ist bemerkenswert, wo doch gerade diese Patientengruppe die Erste sein sollte, die von diesem neuen „genialen“ Produkt profitieren sollte.

Fazit

Nichts Neues im Westen Deutschlands, wo Leverkusen liegt. Bayer stampft eine chemische Substanz aus dem Rheinboden, die in einem gewinnträchtigen Segment menschlichen Elends (=Krankheiten), mithelfen soll, ordentlich … äh – ja was eigentlich?

Wenn es nur um die Kohle ginge, dann soll man sich nicht so zieren und die paar dummen Nebenwirkungen ruhig in Kauf nehmen. Wenn man dann die Milliardengrenze erreicht hat und es wären wirklich zu viele Patienten durch die Substanz verstorben, dann könnte man ja das Produkt immer noch vom Markt nehmen; oder man verkauft die Substanz exklusiv nach Asien – soll ja auch schon vorgekommen sein.

Der Anfang ist auch hier schon gemacht worden: Laut „Spiegel“ gab es 2012 schon 750 Nebenwirkungsfälle mit 58 Toten. 2013 waren es dann 968 Fälle mit Nebenwirkungen und 75 Todesfälle (spiegel.de/wissenschaft/medizin/bayer-blutverduenner-xarelto-unter-verdacht-a-921048.html – ich bin ja kein großer Freund des Spiegels – aber da haben die Redakteure wirklich gute Arbeit geleistet).

Jedenfalls: um den Zeitpunkt der Marktrücknahme hinauszuzögern, werden anscheinend “Xarelto-Tote” einfach nicht als solche registriert. Der „Spiegel“ erklärt dies mit folgenden Worten: Unter anderem fehlten Daten in der vom Hersteller finanzierten Zulassungsstudie, die im renommierten Fachmagazin „New England Journal of Medicine” veröffentlicht wurde. Stichprobenartige Überprüfungen der Primärdaten, so das “arznei-telegramm”, hätten ergeben, dass mehrere Todesfälle bei Patienten, die Rivaroxaban erhalten hatten, “infolge zweifelhafter Zensierung nicht erfasst sind”.

 

Aktualisierung vom 18.2.2014

Der neue Gerinnungshemmer von Bayer scheint nicht nur in unseren Landen in aller Munde zu sein. Auch in den USA scheint es zu brodeln. Dort ist Xarelto zwar zugelassen, aber Bayer versucht eine Indikationsausweitung durchzuboxen, die das Akute Koronarsyndrom (ACS) mit einschließt. Aber bislang sind zwei Zulassungsanträge bei der FDA abgelehnt worden – mit 10:0 Stimmen. Deutlicher geht’s kaum noch.

Bislang fällt der Indikationskatalog für die Substanz in den Vereinigten Staaten recht mager aus. Sie hat eine Zulassung für die Prophylaxe venöser Thromboembolien bei Erwachsenen nach einer Operation mit dem Ersatz von Hüftgelenken und Kniegelenken, sowie für die Prävention von Schlaganfällen bei Patienten mit Vorhofflimmern. Aber wie viele Patienten haben Vorhofflimmern oder erhalten ein künstliches Kniegelenk oder Hüftgelenk? Eine Zulassung der Substanz zur Behandlung von ACS wäre eine gewaltige Erweiterung des Patientenklientels und damit des Umsatzes. Für Europa ist diesbezüglich schon alles in “trockenen Tüchern”. Im Mai 2013 erhielt Bayer die Zulassung für ACS. In den USA ziert man sich noch.

Grund für die Ablehnung der Zulassung seitens der FDA war folgender: Der Zulassungsantrag basiert auf nur einer einzigen Studie, der von mir zuvor (im ersten Teil des Artikels) zitierten ATLAS-Studie, die ja einige “Datenlücken” aufwies und bei der Todesfälle in der Verumgruppe (die Gruppe von Patienten, die Xarelto bekommen hatten) unterschlagen wurden. Bei dieser Studie handelt es sich um eine 90-tägige Behandlungsstudie zur Reduzierung des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse aufgrund von Thromboembolien. Hier hatten die Betreiber nachweisen können, dass 2,5 mg Xarelto zusätzlich zu einer Standardtherapie mit Blutverdünnern in der Lage war, Todesfälle aufgrund von kardiovaskulären Ereignissen, Schlaganfälle und Herzinfarkte nach einem vorangegangenen ACS signifikant zu senken. Als „Plazebogruppe“ diente eine Gruppe von Patienten, die ausschließlich auf einen gängigen („alten“) Blutverdünner eingestellt worden waren. Die beobachteten Unterschiede waren aber statistisch kaum signifikant. Bei rund 10 Prozent der Teilnehmer war der Beobachtungszeitraum so kurz bemessen (also weit unter 90 Tagen), dass am Ende der Studie die Daten dieser Patienten nur noch von rudimentärer Natur waren und man sogar nicht wusste, ob diese Patienten noch lebten oder nicht. Und wenn man dann noch die Todesfälle in der Verumgruppe ausblendet, dann erhält man zu guter Schluss auch das Ergebnis, von dem der Bayer-Manager nachts träumt.

Für die FDA waren jedoch die 90 Tage eindeutig zu kurz. Sie interessierte sich mehr für die Langzeitwirkung von Xarelto. Darauf hin zog Bayer los und unternahm eine „Re-Analyse“, indem sie die vorliegenden Daten statistisch so aufarbeitete, dass daraus ein Langzeiteffekt abzulesen war – natürlich mit überzeugend positivem Effekt für die Substanz. Eine neue Studie diesbezüglich blieb aus (Xarelto should not be approved in ACS says FDA panel). Mit solchen Methoden jedoch lässt sich alles und jedes schön rechnen. Kein Wunder also, wenn die Firma mit solchen Unterlagen auf Granit beißt. Ich jedenfalls hätte mit einer solchen Abschlussarbeit mein Diplom seinerzeit an der Uni wahrscheinlich nicht bekommen.

Aber damit nicht genug. Bayer scheint sich diesbezüglich stur zu stellen. Denn ohne etwas wirklich zu ändern (außer der statistischen Anpassung des Wunschergebnisses), klopfen diese Leute zum zweiten Mal an die FDA-Tür und verlangen eine Zulassung für ihr Produkt. Ja, warum auch nicht, ein Versuch ist es doch wert, wenn man sich die realen und möglichen Verkaufszahlen einmal anschaut. Immerhin erzielte die Substanz 347 Millionen Dollar in der ersten Jahreshälfte und 633 Millionen in den ersten neun Monaten von 2013 ohne ACS. Mit der Zulassung von ACS in der Tasche dagegen, geht man bei Bayer von einem Umsatz von über 2 Milliarden aus. Damit ist der wirkliche McCoy: genau diese Zulassung. Denn in den USA kommen jährlich 1,2 Millionen Patienten ins Krankenhaus wegen genau dieser Indikation (FDA advisory panel gives J&J’s Xarelto resounding ‘no’ for ACS).

Während man sich in den USA Gedanken macht, ob ACS mit in den Indikationskatalog gehört oder nicht, sieht es in Europa für Bayer besser aus. Denn hier ist ACS mit von der Partie. Und weil deshalb mehr Patienten auf das Medikament eingestellt werden können, deshalb bleibt das nicht aus, was man bei einem schlecht dokumentierten Medikament erwarten kann: Nebenwirkungen der übelsten Art.

Laut BfArM gibt es schon 133 Todesfälle und 1400 Verdachtsfälle, die alle direkt auf die Substanz zurückgeführt werden können (Keine US-Zulassung für Xarelto zur Behandlung von ACS). Im Jahr zuvor waren es „nur“ 58 Todesfälle. Laut BfArM ist dies zwar ein alarmierender Befund, aber „ein Kausalzusammenhang im Einzelfall ist nicht sicher belegt“. Umso bemerkenswerter ist die offizielle Stellungnahme der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (Orale Antikoagulation bei nicht valvulärem Vorhofflimmern: Leitfaden der AkdÄ zum Einsatz der neuen Antikoagulantien Dabigatran (Pradaxa®) und Rivaroxaban (Xarelto®)). Laut AkdÄ haben die beiden neuen Antikoagulantien Pradaxa von Boehringer Ingelheim und Xarelto von Bayer keinen wirklichen klinischen Vorteil im Vergleich zu alten, bewährten Blutverdünnern. Die AkdÄ empfiehlt daher einen Einsatz der neuen Substanzen bei Patienten, „für die Vitamin-K-Antagonisten keine Therapieoption sind“ – also Therapieversager beziehungsweise bei Patienten mit hohen Nebenwirkungen. Wenn diese Empfehlung konsequent weltweit in die Praxis umgesetzt würde, dann kann Bayer seinen Umsatz-Traum von 2 Milliarden begraben. Übrigens: Pradaxa scheint ebenfalls ein Problemkandidat zu sein. Denn in dem Zeitraum von März 2008 bis November 2011 sind weltweit bereits 260 Menschen unter der Medikation verstorben. Der Hersteller beeilt sich zu betonen, dass ihr Produkt nicht gefährlicher sei als andere Blutverdünner  (zeit.de/wissen/2011-11/pradaxa-gerinnungshemmer). Toll! Und im nächsten Schritt wird daraus ein Beweis für die Ungefährlichkeit und Sicherheit gezaubert – evidenzbasierte Beweisführung der Schulmedizin halt.

“Neues” Fazit

Vioxx, Avandia etc. – wir hatten schon lange Medikament mehr in den Apotheken schlummern, das (meiner Meinung nach) ein so “häßliches” Potential hatte. Zumindest scheint sich der Hersteller alle Mühe zu geben, durch seine fragwürdigen Zulassungsmaßnahmen ein neues “Avandioxx” auferstehen zu lassen. Aber in 10 Jahren wissen wir sicher mehr.

Noch weitere Fragen zu Xarelto? Nein?

Aber vielleicht zu anderen netten Mitteln und Methoden?

  • Mit HI-Viren infizierte Medikamente? Und nach Asien verkauft, anscheinend wissentlich und ohne Bedenken?
    Tödlicher Ausverkauf: Wie AIDS nach Asien exportiert wurde.
  • Antibaby-Pille gefällig? Da gibt´s doch bestimmt auch was! Und gleich noch ein paar kräftige Nebenwirkungen dazu…
    Tod durch die Pille? und Die besten Medikamente zum Krankwerden?
  • Bayer hat(te) auch einen Cholesterinsenker, genannt „Lipobay“. Im Jahr 2001 zog die Firma den Milliarden-Goldesel vom Markt zurück, da es wieder Nebenwirkungen gab, die wissenschaftlich nicht mit der Gabe des Medikaments in Zusammenhang zu bringen waren. Wie immer, war die Firma natürlich nur und ausschließlich am Wohl der Patienten interessiert:
    Der Lipobay-Skandal.

Heute gelten diese Dinge als abgehakt. Was aber nicht abgehakt zu sein scheint, ist eine Einstellung bestimmter Firmen zu den Patienten und der Firmenpolitik. Denn die “neuen” Produkte machen anscheinend da weiter, wo die Alten aufgehört haben…

Dieser Beitrag Xarelto – Mittel der Wahl oder Mittel der Qual? wurde erstmalig von Yamedo.de (René Gräber) auf Yamedo BLOG veröffentlicht.

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