Hilft das Auswerfen des Ankers gegen Seekrankheit?

©Pieter Mulier (I) (etwa 1600/1615–1659) [Public domain], via Wikimedia Commons

Auf hoher See

Stell Dir vor, du bist mit einem kleinen Boot auf unruhiger, manchmal stürmischer See unterwegs. Wind und Wellen schütteln Dein Boot ganz schön durch, es schaukelt und schlingert, was das Zeug hält. Nach einiger Zeit wird Dir schlecht. Klarer Fall von Seekrankheit. Doch was tun? Du kannst ja nicht den Winden befehlen, nicht mehr zu wehen, den Wellen nicht sagen, sie sollten einen Bogen um Dein Schiff machen. Würdest Du den Anker auswerfen, in der Hoffnung, dass er Dein Schiff festhällt und so beruhigt?

Stimmungslabilität

Eine ähnliche Frage stellt sich immer wieder in der Psychopharmakotherapie emotionaler Schwankungen. Ein gesundes Auf und Ab der Gefühle ist ja gut und richtig. Manche Menschen leiden aber so stark unter den extremen Ausschlägen ihrer Gefühle, dass ihnen quasi vom ganzen himmelhoch-jauchzend  –  zu-Tode-betrübt innerhalb weniger Stunden ganz schlecht wird. Morgens noch beim Aufstehen super gut drauf, eine kritische Bemerkung vom Partner, schon geht’s mit Vollgas in die Verzweiflung. Mittags herrscht wieder Sonnenschein. Am Nachmittag dann der Gedanke: “Schaffe ich es, die Abgabefrist meiner Hausarbeit einzuhalten?” Selbstzweifel, Angst, Erstarren. Abends wieder Party.

Bipolare Erkrankung?

Die Aufgabe des Psychiaters ist es in solchen Fällen, zu diagnostizieren, ob es sich um eine bipolare Erkrankung handelt. Bipolare Erkrankungen sind typischerweise davon gekennzeichnet, dass der Patient im Abstand von wenigen Jahren, manchmal sogar nur von einigen Monaten oder sogar nur einigen Wochen depressive und manchmal manische Phasen erlebt. In den depressiven Phasen kommt er nicht gut aus dem Bett, ist wochenlang traurig gestimmt und hat zu nichts Lust. In den deutlich selteneren und meist viel kürzeren manischen Phasen ist er überdreht, schläft einige Tage lang nur wenige Stunden pro Nacht, hat tausend Pläne im Kopf und springt gedanklich von einem Thema zum nächsten.
Obwohl die bipolare Erkrankung eine ernste Gesundheitsstörung ist, ist sie gut behandelbar. Die Gabe stimmungsstabilisierender Medikamente kann dazu führen, dass deutlich seltener pro Jahr deutlich weniger ausgeprägte manische oder depressive Phasen auftreten. Vereinzelt gibt es bei bipolaren Patienten in manischen Phasen auch psychotische Symptome. In diesen Phasen helfen Neuroleptika gegen die psychotischen Symptome.

Oder Stimmungsschwankungen?

Man muss gedanklich trennen zwischen einer bipolaren Erkrankung und Stimmungsschwankungen während eines Tages. Zwar gibt es den Begriff des rapid cyclings, was sehr häufige Wechsel von echten manischen und echten depressiven Episoden beschreibt. Fälle von rapid cycling sind aber sehr selten und stets eingebunden in eine seit vielen Jahren bestehende schwere bipolare Erkrankung.
Ungefähr 10.000 mal häufiger sind einfache Stimmungsschwankungen. Davon ist auszugehen, wenn die Stimmung mehrfach am Tag schwankt, oft ausgelöst von kleinen Auslösern. Stimmungsschwankungen kommen oft bei der Borderline-Erkrankung vor und werden hier emotionale Labilität oder emotionale Instabilität genannt. Sie kommen aber auch bei einer Reihe anderer psychiatrischer Krankheitsbilder und vor allem auch bei ganz ganz Gesunden vor.

Pharmakotherapie von Depressionen und Manien

Wenn man nun einen Psychiater fragt, ob er etwas gegen Stimmungsschwankungen hat, dann muss er sich gedanklich also disziplinieren:

  • Handelt es sich um eine Depression? Dann helfen Antidepressiva.
  • Handelt es sich um eine bipolare Erkrankung? Dann helfen Phasenprophylaktika wie Lithium, Valproat und Carbamazepin.
  • Handelt es sich um eine Manie mit psychotischen Symptomen? Dann helfen Phasenprophylaktika und Neuroleptika.

Pharmakotherapie der Stimmungschwankungen

  • Oder handelt es sich um ganz normale Stimmungsschwankungen?

In diesem Falle helfen meiner Erfahrung nach Medikamente nicht. OK, man kann ein sedierendes Medikament verordnen, dann ist der Patient müder. Aber die Stimmung wird dadurch nicht stabiler. Viele Psychiater sind auch versucht, Phasenprophylaktika einzusetzen, denn die heißen auf Deutsch ja ganz verlockend “Stimmungsstabilisierer”. Aber das stimmt nur, wenn man den Verlauf eines Jahres betrachtet, nicht, wenn man den Verlauf eines Tages betrachtet. Und ganz am Schluss denken Psychiater offenbar immer wieder auch daran, Neuroleptika zu versuchen. Neuroleptika sind unzweifelhaft in der Behandlung der Psychose sehr wirkstarke Medikamente, aber sie haben nichts in der Behandlung von Stimmungsschwankungen zu suchen. Auch nicht vermeindlich so sanfte und so stark beworbene Neuroleptika wie Quetiapin (z.B. Seroquel®) oder Aripiprazol (Abilify®).

Anker lichten!

Es ist normalerweise total über das Ziel hinaus geschossen, wenn man bei Stimmungsschwankungen “adjuvant”, “augmentativ” oder “zur Unterstützung” Neuroleptika gibt. Diese greifen in den Dopaminstoffwechsel ein, und Dopamin braucht man für wichtige Dinge wie Freude, Motivation, Erkennen und Einschätzen von Bedeutung, Antrieb und ähnliches. Ein Neuroleptikum gegen Stimmungsschwankungen zu verordnen ist, wie bei einem Boot auf unruhigem Wasser, das schwankt und schleudert, den Anker zu Wasser zu lassen. Anker sind zwar toll, wenn das Boot in einer Realitätsverkennung denkt, es sei ein Vogel und sich in die Lüfte erheben will. Aber es verhindert nicht die Schwankungen durch die stürmische See. Das Boot bleibt durch den Anker zwar am Boden festgekettet, die Schwankungen bleiben aber bestehen.

Die Nebenwirkungen der Neuroleptika überwiegen im Falle von Stimmungsschwankungen meiner Erfahrung nach fast immer ihre erhofften, aber meist nicht realen Wirkungen.

Auf zu ruhigeren Wassern

Was hilft, ist, das Leben in ruhigere, stabilere Gewässer zu führen. Weniger Streß, etwas Vorplanung, Konflikte lösen, um sie loszuwerden.

Psychotherapie kann helfen, das zu bewirken. Psychotherapie kann auch wie ein Segelkurs wirken: Sie kann helfen, sich bei aufkommenden Böen eleganter in den Wind zu legen und ihn zu nutzen, um vorwärts zu kommen, statt von ihm herumgepustet zu werden, oder gar zu kentern.

P.S.: Geschrieben in PixelPumper. Läuft!

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