Als near miss wird ursprünglich Luftfahrt eine Situation bezeichnet, bei der fast ein großes Debakel passiert wäre, wo aber noch mal alles gut gegangen ist. Da wir Mediziner uns ja gerne bei den Piloten abschauen, wie man Fehler besser entdeckt und wie man Dinge vielleicht besser machen kann, bedienen wir uns auch gerne bei der Wortwahl der fliegenden Zunft (wie andere Berufsgruppen auch). Warum ist man im Luftverkehr da oftmals weiter als bei uns? Wäre man böse, so könnte man sagen, dass der Pilot im Zweifelsfall ja mit abstürzt. Er hat also ein gesteigertes Interesse daran, dass es nicht zum Absturz kommt. Da haben wir Ärzte es natürlich besser, aber auch wir arbeiten daran, mit Tools wie dem CIRS (Critical Incident Reporting System) das Umfeld für unsere Patienten ein bisschen sicherer zu gestalten.
Heute möchte ich einen near miss vorstellen. Da das hier ja kein CIRS-Portal ist, verfremde ich den Fall natürlich deutlich, aber das Kernproblem wird schnell erkennbar und ich werde mir wie immer größte Mühe geben, es auch für Nicht-Mediziner verständlich darzustellen.
Ort: urologischer Eingriffsraum, weit weg vom Zentral-OP und von irgendwem, der einem zu Hilfe eilen könnte
Zeit: später Nachmittag, alle wollen bald nach Hause gehen
Situation: Die Patientin wurde nachgemeldet – eine Harnleiterschiene soll eingelegt werden, da die Patientin einen Tumor im Bauch hat, der den Abfluss in die Harnblase behindert. Der Tumor war seit Jahren bekannt, die Patientin hatte OPs, Chemo und Bestrahlung hinter sich. Sie war noch nicht anästhesiologisch gesehen, ich sollte das schnell zwischen Tür und Angel machen (prinzipiell ok, ist ja auch ein Notfall).
Frau X war eine gebildete und freundliche Mittfünfzigerin. Sie saß beim Aufklärungsgespräch in ihrem Bett, das man in den Wartebereich vor dem OP geschoben hatte. Sie war etwas schwach, lehnte sich in ihr Kissen zurück und hatte sich die Decke bis kurz unter das Kinn gezogen, da sie doch sehr fror. Aufgrund der Notfallsituation und dem Frieren der Patientin unterblieb die körperliche Inspektion. Die letzte OP hatte drei Jahre zuvor stattgefunden, Metastasen der Lymphknoten im Bereich des Oberkörpers waren in der Zwischenzeit bestrahlt worden. Sie sprach von Problemen nach der Bestrahlung mit der Haut. Allergien bestanden keine, die letzten Narkose sei gut vertragen worden. Außer der fortgeschrittenen Tumorerkrankung gab es keine weiteren Erkrankungen. Sie war bereits seit dem Vortrag im Haus, eigentlich wollte man den Eingriff umgehen, aber nun musste es doch sein. Sie war seit dem Vorabend nüchtern. Die Patientin unterschrieb die Einwilligung.
Das Procedere war bei einer nüchternen Patienten recht einfach – Narkose mittels Larynxmaske – geschätzte Eingriffsdauer: wahrscheinlich nur etwa 10 Minuten. Ein dankbarer Fall – schnell zu erledigen, danach können alle nach Hause gehen.
Die Larynxmaske (kurz “LAMA”) ist ein beliebtes Instrument zur Atemwegssicherung bei Patienten, die einen relativ kurzen Eingriff (unter zwei Stunden) vor sich haben, nüchtern sind und keine Muskelrelaxation brauchen. Sie bietet keinen Aspirationsschutz (also kann Mageninhalt in die Lunge laufen), da sie lediglich auf den Kehlkopf gelegt wird. Die Luft wird also ähnlich der Maskenbeatmung einfach in die Lunge gedrückt. Um den Magen nicht mit Luft aufzublasen sollte ein bestimmter Beatmungsdruck nicht überschritten werden. Die LAMA wird nach dem Einschlafen dem Patienten in den Mund geschoben und sitzt meist recht schnell recht gut. Fehlerquellen sind das Umschlagen der Spitze (einfach zu beheben) oder eine mangelnde Narkosetiefe, bei der sich der Patient gegen das Beatmen wehrt und man somit das Gefühl hat, keine Luft in den Patienten hinein zu bekommen. Als Anästhesist wendet man die LAMA täglich an und weiß ihre Vorteile auch bei einem schwierigen Atemweg zu schätzen. Auch bekommt man schnell ein Gefühl dafür, wo bei schlechter Beatmungsqualität der Fehler liegen könnte. Dass man mit der LAMA überhaupt nicht beatmen kann ist ausgesprochen selten.
Die Patientin wurde routinemäßig mit Remifentanil und Propofol eingeleitet. Zuvor wurde sie mittels Maske präoxygeniert (also mit Sauerstoff aufgesättigt). Erwartete Zeit bis zum Abfall der Sauerstoffsättigung bei unerwarteten Komplikationen: bei dieser Patientin etwa drei bis vier Minuten (aufgrund gewisser Begleitumstände, die jetzt nicht ganz so relevant für den Verlauf sind).
Minute 1: Sättigung 100%, Herzfrequenz 80 (eigene Herzfrequenz 73)
Nach Sistieren der Spontanatmung Versuch der Maskenbeatmung, welcher scheiterte, daher unmittelbares Einlegen der LAMA.
Die Patientin lässt sich nicht beatmen.
Minute 2: Sättigung 100%, Herzfrequenz 87 (eigene Herzfrequenz 77)
Repositioneren der LAMA und Nachblocken.
Die Patientin lässt sich nicht beatmen.
Minute 3: Sättigung 97%, Herzfrequenz 88) (eigene Herzfrequenz 88)
Vertiefung der Narkose mittels Propofol unter der Annahme, die Narkosetiefe sei nicht ausreichend.
Pflegekraft macht mich darauf aufmerksam, dass die Patientin am Hals eine fibrotische Veränderung der Haut habe. Ich fasse den Hals an – ein Panzer. Mutmaßlich durch die Bestrahlung, die nach der letzten OP stattgefunden hatte (die “Probleme mit der Haut” nach der Bestrahlung???).
Die Patientin lässt sich noch immer nicht beatmen.
Minute 4: Sättigung 72%, Herzfrequenz 104 (eigene Herzfrequenz 122)
Erster Anflug von Panik. Bitte an die Pflegekraft, eine Intubation vorzubereiten und ein schnellwirkendes Muskelrelaxanz aufzuziehen. Bitte an die OP-Pflege, Hilfe in Form eines zweiten Anästhesisten zu holen (OP-Pflege weiß nicht, wo sich der nächste Anästhesist befindet, da außer mir keiner im urologischen Eingriffsbereich ist und der Zentral-OP sehr weit weg, nächster Anästhesist wäre im Aufwachraum). In der Zwischenzeit weitere Repositionsmaßnahmen der LAMA. Es fühlt sich an, als würde die Luft irgendwo im Nichts verpuffen.
Die Patientin lässt sich noch immer nicht beatmen.
Minute 5: Sättigung 33%, Herzfrequenz 118 (eigene Herzfrequenz 174)
Pflegekraft hält das Muskelrelaxanz hin und fragt, ob sie es geben soll. Ich habe Sorge, dass aufgrund der massiven fibrotischen Veränderungen, die anscheinend eine Beatmung unmöglich machen, auch die Intubation unmöglich werden könnte – ohne Aussicht auf Wiederkehr einer zeitnahen Spontanatmung, wenn die Patientin erstmal relaxiert ist. Ich bitte um das Laryngoskop, um mir einen Eindruck zu verschaffen, ob die Intubation schwierig werden würde – ich sehe: absolut nichts. Mittlerweile ist die OP-Pflegekraft wieder zurück – sie hat nicht verstanden, wo sie einen zweiten Anästhesisten suchen soll.
Die Patientin lässt sich noch immer nicht beatmen.
Minute 6: Sättigung 31%, tiefblau, Herzfrequenz 134 (eigene Herzfrequenz 182)
Ein Videolaryngoskop ist auf die schnelle nicht verfügbar. Ein Intubationsversuch erscheint nicht sehr aussichtsreich und könnte sie in dieser Situation umbringen. Eine Notfalltracheotomie (der “Luftröhrenschnitt”) erscheint bei dem Panzer am Hals auch als unmöglich, ich würde wahrscheinlich Luftröhre gar nicht finden (davon mal ganz abgesehen, dass das schon ohne Fibrose kein Routineeingriff ist). Ich warte jeden Moment auf das Abfallen der Herzfrequenz der Patientin, das eine jetzt wirklich unzureichende Sauerstoffversorgung des Herzens signalisieren würde.
Die Patientin fängt an zu glucksen. Ich sende ein Stoßgebet zum Himmel und lasse mir die einfache Beatmungsmaske geben, um das Glucksen, das ich als Beginn der Wiederkehr der Spontanatmung interpretiere, zu unterstützen.
Minute 7: Sättigung 94%, Herzfrequenz 92 (eigene Herzfrequenz 97)
Es funktioniert. Die Eigenatmung lässt sich problemlos unterstützen. Die Narkose wird mit Narkosegas unterhalten, um die Spontanatmung nicht zu gefährden und der Eingriff wird in Maskennarkose durchgeführt.
Die Patientin geht hinterher problemlos in den Aufwachraum und erhält einen Anästhesieausweis, um dem nächsten Anästhesisten gleiches Debakel zu ersparen. In einem ausführlichen Gespräch wird sie über die Situation und die Gründe hierfür aufgeklärt.
Wo lagen in diesem Fall die Probleme? Zuerst ist die Fibrose am Hals bei der Aufklärung aufgrund der besonderen Umstände (Notfalleingriff, frierende Patientin, unauffällige Vor-OPs) nicht aufgefallen. Durch die unauffälligen Voroperationen hatte ich dieses Problem nicht auf dem Schirm und auch die Tatsache, dass die letzte OP vor der Bestrahlung lag, war mir in diesem Moment nicht bewusst. Wahrscheinlich hätte ich jedoch auch in Kenntnis der Fibrose die Unmöglichkeit der Beatmung nicht als wahrscheinlich angesehen. Gut war, dem Anästhesistenreflex: wenn nichts geht, geht immer der Tubus, nicht nachgegeben zu haben. Das wäre mit Sicherheit nicht gut ausgegangen. In der Stresssituation war die OP-Pflege nicht ausreichend gut instruiert worden, wo sie Hilfe hätte finden können – meine eigene Pflegekraft brauchte ich im Saal, hätte sie also nicht wegschicken können. Im Nachhinein würde ich in einer solchen Situation (später Nachmittag, nicht mehr die volle Besetzung im Haus, Wissen um die vulnerable Situation im urologischen Eingriffsraum und das limitierte Angebot an Intubationshilfen in diesem Bereich) wahrscheinlich den Reanimationsalarm auslösen – es hätte eine sofortige telefonische Nachfrage gegeben und man hätte um anästhesiologische Hilfe und das Mitbringen entsprechenden Equipments bitten können. Dies ist auch die wichtigste Lehre, die ich aus diesem near miss gezogen habe – vorher überlegen, wie man in der Situation die erforderliche Manpower und das komplette Notfallequipment schnell ranschaffen kann.
Dies ist also ein typisches Beispiel der “Seconds of Terror” – oder eine klassische cannot ventilate, cannot intubate-Situation – und wie man sie doch noch gut ausgehen lässt.