Heute war wieder eine da, eine junge Frau Anfang zwanzig.
Mühselig kam sie vom Wartezimmer ins Sprechzimmer gehumpelt.
„Sie sehen schon, was mit mir los ist“, sagt Sie beim Hereinkommen und schiebt dem Ärmel hoch. Ihr Arm ist voller blauer Flecken. „Meine letzte Auseinandersetzung mit meinem Freund ist nicht so gut verlaufen.“
Ich muss erst mal schlucken, erinnere mich aber daran, dass es schon einmal ein ähnliches Problem gab. Sie ist eine junge, hübsche Frau, die mitten im Leben steht, einen guten Beruf hat, eine eigene Wohnung. Kein Opfertyp, niemand, den man in einer Beziehung vermutet, bei der Gewalt zum Alltag gehört.
In den letzten Tagen wurde von der FRA (Agentur der Europäischen Union für Grundrechte) eine EU weite Erhebung zum Thema Gewalt gegen Frauen veröffentlich, deren Ergebnisse zeigen, dass 33% aller Frauen seit ihrem 15. Lebensjahr Gewalt erfahren haben, 8% sogar in den letzten 12 Monaten. (das sind 13 Millionen Frauen EU-weit), 2% haben sexuelle Gewalt erfahren (das sind 3,7 Millionen in den letzten 12 Monaten). fra-2014-vaw-survey-factsheet_de . Das alles mitten in Europa und mit wahrscheinlich noch hohen Dunkelziffern!
Meine Patientin erzählt, dass ihr momentan alles zu viel ist, dass auch noch ihre Schwester krank isei und ihre Eltern umziehen müssen. Deshalb habe sie niemanden, an den sie sich wenden kann, und sie brauche ein paar Tage Auszeit. Nein, von ihrem Freund wolle sie sich nicht trennen, denn dann würde er sie noch viel schlimmer zurichten. Nein, anzeigen wolle sie ihn auch nicht. Zuhause sei sie sicher, für ihre Wohnung habe er keinen Schlüssel.
Ich schreibe sie zwei Tage krank und gebe ihr Telefonnummern mit Hilfeangeboten mit. Sie gibt ein Versprechen ab, dass sie sich dort hinwenden werde, aber viel Hoffnung habe ich nicht.
Unter bestimmten Umständen, wie zum Beispiel eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben der Patientin oder ihrer Kinder, kann der Arzt das Wohl seiner Patientin über seine Schweigepflicht stellen. Gerade bei der Behandlung gewaltbetroffener Frauen ist die genaue Kenntnis der rechtlichen Vorschriften gefragt: Entbindet die Patientin ihren Arzt von seiner Schweigepflicht, kann er gegenüber Staatsanwaltschaft und Gericht aussagen. Möchte die Patientin die Körperverletzung nicht zur Anzeige bringen, darf der Arzt auf Grund seiner ärztlichen Schweigepflicht nicht handeln. (Quelle: Presseinformation Ärztekammer Mecklenburg Vorpommern)