Prof. Dr. Stephan Martin ist Chefarzt für Diabetologie und gleichzeitig Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums des Verbundes Katholischer Kliniken Düsseldorf. Wir sprachen mit ihm über Telemedizin, bei der mittels verschiedener Kommunikationsmittel eine räumliche Distanz zwischen Arzt, Therapeut etc. und Patient überbrückt wird (siehe auch E-Health).
Herr Dr. Martin, was ist und wieso brauchen wir Telemedizin?
Die deutsche Gesellschaft wird immer älter und kränker. Gleichzeitig gibt es unter anderem aufgrund des demografischen Wandels weniger Ärzte, die sich um die kranken Menschen kümmern. Zusätzlich vernachlässigen die Menschen immer mehr die Basisgesundheit und achten nicht auf ihre Ernährung oder ausreichend Bewegung. Die Folge sind Übergewicht und Fettsucht, in deren Folge vermehrt Erkrankungen wie Typ 2 Diabetes, Bluthochdruck oder Fettstoffwechselstörungen auftreten. Dabei könnte man diese „Zivilisationskrankheiten“ bereits vor dem Entstehen verhindern oder in frühen Phasen deutlich abmildern.
Da es sich bei diesen Zivilisationskrankheiten um moderne Entwicklungen handelt, müssen wir auch moderne Strategien dagegensetzen. Mit den alt hergebrachten Verfahren kommen wir da nicht weiter. Da bietet die Telemedizin eine große Chance Patienten bei den Änderungen ihres Lebensstils zu unterstützen. Dafür werden die Vitalparamenter im Alltag gemessen und direkt an den Arzt übermittelt. Der Patient ist dann motivierter, die Vorgaben einzuhalten, weil die Werte kontinuierlich überwacht werden. Und der Arzt kann direkt reagieren, wenn etwas nicht richtig läuft.
Funktioniert so etwas in der Praxis?
Ich habe mein Programm zum Beispiel mit dem Diabetes-Patienten Martin Herhold (dazu ein Artikel der RP) getestet. Das wurde auch in der WDR-Lokalzeit gezeigt. Er hatte dabei Geräte, mit dem die Schritte gezählt und Gewicht, Blutzucker sowie -druck gemessen wurden. Wichtig ist hier besonders mit Blick auf ältere Patienten, dass die Übertragung der Werte auch ohne Computer und Internetanschluss möglich ist. Dazu dient ein kleines Gerät, das mit einer SIM-Karte ausgestattet ist und so die zu Hause gemessenen Daten transferieren kann. Einmal in der Woche erfolgt ein Telefonat, in dem der Arzt auf das geschützte Internetprotal zugreift und mit dem Patienten die Werte telefonisch bespricht. Dabei blieb er aber weiterhin mein Patient, den ich, neben den „normalen“ Sprechstunden, eben auch aus der Ferne betreuen konnte. Unser Projekt hat allerdings den Ansatz, dass es nicht primär darum geht, die Therapie zu unterstützen, wenn der Arzt gerade nicht beim Patienten ist. Stattdessen soll es sowohl dem Patienten, als auch dem Arzt, zusätzliche Informationen und Hilfe bereitstellen.
Wir haben den Einfluss der telemedizinischen Betreuung aber auch wissenschaftlich untersucht. Dabei wurden 180 übergewichtige Testpersonen in drei Gruppen unterteilt. Bei der ersten Gruppe wurden keine Daten gesammelt. Die zweite Gruppe bekam die oben beschriebenen Geräte zur Messung von Gewicht und Schritten. Diese Teilnehmer konnten diese Werte dann auf dem geschützten Internetprotal einsehen. Die dritte Gruppe hat zusätzlich zu den Geräten wöchentlich einen Anruf durch einen Gesundheitscoach erhalten, der mit ihnen die Werte besprochen hat. Diese Gruppe hat im Verlauf der Studie die größten Erfolge verzeichnet – Gewicht, Blutdruck, Blutzuckerwerte und Blutfette sanken signifikant im Vergleich zur Kontrollgruppe ab. Die Personen aus der zweiten Gruppe – die nur die Geräte bekommen hatten – konnten zwar auch Erfolge in der Gewichtsabnahme verzeichnen, aber bei weitem nicht so stark wie bei der Kombination aus Telemedizin und persönlicher telefonischer Betreuung. Die menschliche Zuwendung lässt sich somit nicht durch Geräte ersetzen.
Sie sprechen aufgrund Ihrer fachlichen Ausrichtung vor allem über Diabetes-Patienten. Bei welchen anderen Krankheiten wäre die Telemedizin auch hilfreich?
Die Telemedizin wird heute beispielsweise bei Patienten mit Herzschwäche genutzt, um bei einer Verschlechterung der Herzfunktion – dies kann man durch Anstieg des Gewichts sehr schnell sehen – schneller zu reagieren. Ein anderes Beispiel sind chronische Lungenerkrankungen. Auch für Parkinson gibt es bereits einen vielversprechenden Ansatz, da die Medikamente dort individuell angepasst werden müssen. Durch den konstanten Austausch beim Einsatz von Telemedizin kann der Arzt bei Bedarf umgehend die Dossierung anpassen.
Wie sehen Sie die Möglichkeiten der Telemedizin im deutschen Gesundheitswesen? Ab wann wäre es flächendeckend einsetzbar?
Telemedizin wird bei uns Düsseldorf bereits in einem Programm mit einer privaten Krankenversicherung bei der Betreuung von Personen mit neu-diagnostiziertem Typ 2 Diabetes genutzt. Im Bereich der Herzschwäche gibt es auch bundesweite Programme. Aber der Medizinsektor ist weiterhin besonders konservativ. Digitales wird nur sehr langsam adaptiert.
Ein weiteres Problem stellt die sektorale Ausprägung des deutschen Systems dar. Freiberufliche Ärzte und Krankenhäuser verfolgen unterschiedliche Interessen. Jede Gruppe hat bei Veränderungen Sorge um das jeweilige Budget. Da gibt es schnell Abwehrhaltungen, wenn es um etwas Neues geht.
In Deutschland gibt es im Bereich der Telemedizin zudem noch ein großes rechtliches Problem. Hier ist der Arzt dazu verpflichtet, den Patienten vor einer Behandlung persönlich zu sehen. Das ist zum Beispiel in England oder den USA anders.
Welche aktuellen Herausforderungen gibt es denn noch in der Medizin?
Wir stehen speziell bei den chronischen Volkserkrankungen wie Bluthochdruck und Typ 2 Diabetes vor einem Problem bei der Ausbildung der Ärzte. Aktuell werden sie in Krankenhäusern zunehmend auf akute Erkrankungen ausgebildet. Bedingt durch das neue Abrechnungssystem in den Kliniken (DRG) werden stationäre Aufenthalte so kurz wie möglich gehalten. Da in Deutschland aufgrund der sektoralen Trennung Kliniken nur selten in die ambulante Betreuung von Patienten eingebunden sind, werden Ärzte nicht mehr ausreichend auf Aufgaben in einer Praxis vorbereitet. In anderen Ländern, wie den Niederlanden ist dies anders, dort gibt es an Krankenhäusern ambulante Facharztzentren, so dass die Ärzte in der Ausbildung auch Erfahrungen in der ambulanten Behandlung machen können. Hier könnte ich mir auch sehr gut vorstellen, die in Ausbildung befindlichen Kollegen in telemedizinischen Zentren, in denen Patienten mit chronischen Volkserkrankungen bei Lebensstil-Änderungen unterstützt werden im Rahmen der Ausbildung Erfahrungen zu sammeln.
Außerdem muss die Ausbildung im Bereich Medizin und Gesundheitswesen allgemein attraktiver für junge Menschen werden. Der Arztberuf verliert meiner Meinung nach zunehmend an Attraktivität. Zwar studieren noch viele junge Menschen Medizin, doch ob sie später wirklich als Arzt tätig sein werden, ist ungewiss. Es gibt derzeit sehr viele andere Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der Medizin oder auch im Ausland, die häufig verlockender sind. Und das ist meist nicht nur eine Gehaltsfrage.
Wie sähe für Sie denn das ideale Gesundheitswesen aus?
Das ideale Gesundheitswesen werden wir nie haben. Unser deutsches System ist bereits gut, aber es muss auf dem aktuellen und neuen Stand bleiben, sonst verlieren wir an Vorsprung. Mein Herzensthema ist daher die Lebensstiländerung von Patienten mit Hilfe von Telemedizin. Bislang wird das in Deutschland dem freien Markt überlassen und auch nicht von den Kassen bezahlt. Teilweise übernehmen sie die Prävention, aber das ist häufig nicht in ein Behandlungskonzept integriert, eher eine Art „Gießkannenpolitik“. Die Lebensstiländerung ist bei vielen Erkrankungen ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg:
Besonders das Thema der Basismaßnahmen und generellen Gesundheit sollte daher meiner Meinung nach stärker in den Vordergrund treten, wenn moderne Erkrankungen durch ungesunde Lebensweisen ausgelöst und verstärkt werden.