Max ist fünf Jahre alt und hat noch nie Zahnschmerzen gehabt. Heute kommt er entspannt in Begleitung seiner Eltern in unsere Zahnarztpraxis. Wir begrüßen ihn auf Augenhöhe und führen ihn in Ruhe durch unsere Praxis. Dabei fragen wir ihn, ob er das eine oder andere näher angucken will und erklären es ihm. Seine Eltern halten sich im Hintergrund. Max will gerne mal auf einen Behandlungsstuhl klettern, was er selbstverständlich darf und zwar ohne seinen Mund aufmachen zu müssen. Wir erklären ihm in kindgerechter Sprache, was man hier machen kann und zeigen ihm verschiedene bunte Kinder-Zahnfüllungen. Welche würde ihm am besten gefallen, wenn er mal ein Loch in seinem Zahn hätte: Die grüne? Die blaue? Die rote? Oder vielleicht doch die gelbe Füllung? Wie spontan nutzen seine Eltern den heutigen Besuch, um selbst ihre Zähne nachschauen zu lassen. Max klettert auf einen herbeigebrachten Stuhl und schaut mir zu, während meine Mitarbeiterin ihn sicher hält. Wir schenken Max ein farbenfrohes medizinisches Kinder-Zahnputz-Set und verabschieden uns herzlich von ihm und seinen Eltern mit den Worten: „Schön, dass du heute bei uns warst. Du kannst gerne mal wieder zu uns kommen“.
Leider sieht unser Erstkontakt mit den kleinen Patienten in unserer Praxis meistens ganz anders aus. Das liegt hoffentlich nicht so sehr an uns, als vielmehr an einem unserer Behandlungsschwerpunkte: Zu uns kommen seit vielen Jahren schwerpunktlich Kinder mit Angst vorm Zahnarzt, darunter auch solche, die – wenn überhaupt – schon lange keinen Zahnarzt mehr gesehen haben. Diese kleinen Patienten leiden also meist schon länger unter Schmerzen und sind akut behandlungsbedürftig. Nicht selten ist die Karies in ihren ersten Zähnen so weit fortgeschritten, dass bei noch längerem Zuwarten der gesamte Zahnhalteapparat beeinträchtigt werden könnte. Dann wären auch die wertvollen nachwachsenden Zähne gefährdet. Fast immer müssten wir aus zahnärztlicher Sicht umgehend handeln. Doch was ist zu tun bei akut behandlungsbedürftigen Kindern, die obendrein noch unter einer ausgeprägten Zahnarztangst leiden? Einerseits scheint für eine gute Vertrauensbildung wie eingangs beschrieben kaum noch Zeit zu sein. Andererseits darf durch Drängen kein zusätzlicher psychischer Druck entstehen. Eine typische Dilemma-Situation.
Ist das Kind in den Brunnen gefallen, kann man es nicht durch Zureden herausbekommen. Aber man kann dennoch eine Atmosphäre schaffen, die es ihm ermöglicht, wahrzunehmen, dass man einfühlsam und klar mit ihm redet und verlässlich für es da ist. Nur so kann es die rettenden Seile, die man in den Brunnen hinein lässt, überhaupt sehen und ergreifen. Das Wichtigste ist es, den bestehenden Druck, durch den Kind und Eltern schon arg belastet sind, weitest möglich herauszunehmen. Die Situation ist ja objektiv schon akut genug, und man darf sie keinesfalls noch zuspitzen. Eine vertrauensvolle, ruhige Atmosphäre und jederzeitiges Verständnis für die Nöte der jungen Patienten und ihrer Eltern ist jetzt die Grundlage für jede weitere Entscheidung. Mir und jedem in unserem Team ist bewusst, dass Kinder Angst vorm Zahnarzt haben, weil sie bereits schlechte Erfahrungen machen mussten. Das kann man nicht wegreden oder einfach ausblenden.
Dennoch kann und muss ich als Zahnarzt jetzt klar Wege aufzeigen. Wir haben in unserer Praxis immer wieder die Erfahrung gemacht, dass wir kleine Angstpatienten bereits mit entspannter kindergerechter Atmosphäre, etwa durch Musik, kuschelige Spielzeugecken, entspannte, vertraute Personen und vor allem viel zeitlichem Vorlauf – da wo dies noch möglich ist – beruhigend einstimmen konnten. Auch Entspannungstechniken helfen durchaus. Und nicht selten konnten wir die Stimmung der kleinen Patienten durch die zusätzliche Gabe geeigneter homöopathischer Mittel günstig beeinflussen.
Eine andere Option, die wir nur Eltern mit einem besonders akut behandlungsbedürftigen Kind nahe legen, kann eine Sedierung oder auch eine Behandlung ihres Kindes im Tiefschlaf sein. Und wo die Not ganz groß ist, ist nach vorheriger Abklärung durch den Hausarzt eine Vollnarkose manchmal sinnvoll. Sie wird durch unseren Anästhesist mit einer individuellen, schonend dosierten Menge an Medikamenten einleitet und überwacht.
Da hierbei der Patient – anders als bei einer lokalen Betäubung – vollkommen stressfrei ist, kann ich als Zahnarzt auch bei langwierigeren Behandlungen mit einem Optimum an Gründlichkeit vorgehen, ohne den Patienten durch sonst mehrere erforderliche Sitzungen in lokaler Betäubung zu belasten. Zum Beispiel kann hierbei nicht nur größerer Kariesbefall entfernt und gefüllt werden. Auch bereits eingetretene Beeinträchtigungen des Zahnhalteapparates können gestoppt, eventuell bereits verschobene Milchzähne gezogen werden. Nachwachsende Zähne können sich dann richtig stellen. So werden spätere Zahnfehlstellungen vermieden, ebenso wie eine spätere kieferorthopädische Gebisskorrektur.
Aus 30-jähriger Erfahrung können wir sagen, dass viele Kinderpatienten eine einmal erfolgte schmerzfreie Erfahrung beim Zahnarzt sehr positiv abspeichern. Die positiv erlebte Durchbrechung des Teufelskreises als Kind hat ihre Hemmschwelle auch im Erwachsenenalter für spätere Zahnbehandlungen und Zahnprophylaxe erheblich herabgesetzt, was wir über diesen Zeitraum empirisch aus eigener Anschauung belegt sehen.
Doch einmal abgesehen von der Wahl unserer Methode, mit der wir den fast verlorenen Zahnpatienten wieder erreicht und behandelt haben, gibt es noch etwas Wichtigeres:
Wir Zahnärzte müssen bei der zahnärztlichen Behandlung von Kindern dafür sorgen, dass der allererste Kontakt des Kindes mit uns spielerisch und stressfrei verläuft – und vor allem schmerzfrei ist. Bereits damit legen wir das beste Fundament für lebenslang gesunde Zähne.