Vor 25 Jahren verabschiedete die Mitgliederversammlung der Deutschen AIDS-Hilfe das bis heute richtungsweisende und gültige Positionspapier „Schwule und Aids“. Ein Kalenderblatt von Axel Schock
Äußerst effizient und wenig streitlustig scheint es auf den Mitgliederversammlungen der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) damals zugegangen sein. Mit zehn Gegenstimmen wurde 1989 in Mainz das „Positionspapier Schwule und Aids“ von den rund 150 Anwesenden durchgewunken, und zwar ohne große oder gar hitzige Diskussion, wie sich Rainer Schilling erinnert.
Auch der nichtschwule Teil der Mitgliederversammlung habe die Wichtigkeit des Papiers erkannt. Der damalige DAH-Schwulenreferent war einer der Koautoren des Memorandums. Zwei Wochen zuvor hatte sich ein halbes Dutzend Männer zu einem Workshop getroffen, um Wegmarken für eine erfolgreiche zielgruppenspezifische HIV-Prävention bei schwulen Männern zu entwickeln und zugleich eine Ergänzung, wenn nicht gar Gegenstimme zu der wegweisenden Buchpublikation „Aids kann schneller besiegt werden“ des Gesundheitswissenschaftlers Rolf Rosenbrock zu liefern.
Nur über die Ansteckungswege zu informieren, erschien zu wenig
Denn darin wurde, wie Schilling es heute formuliert, ein betont lerntheoretischer Ansatz in der HIV-Prävention verfolgt. Für die aus der Schwulenbewegung kommenden DAH-Aktivisten wie Schilling oder auch Michael Schuhmacher, heute Geschäftsführer der Aidshilfe Köln, war das aber zu wenig. Das Informieren über die Ansteckungswege erschien ihnen zwar wichtig, aber keineswegs hinreichend, um die Ausbreitung der Infektion in der Schwulenszene einzudämmen.
Was die Seminargruppe an einem Wochenende Anfang Mai 1989 erarbeitete, danach kapitelweise in Hausarbeit ausformulierte und zwei Wochen danach bereits auf der Mitgliedersammlung zur Abstimmung stellte, sollte die Präventionsarbeit der DAH bis heute bestimmen.
Liest man dieses Papier heute, klingen viele seiner Sätze unspektakulär und geradezu vertraut: „Die Entscheidung für oder gegen Safer Sex ist eine individuelle Entscheidung für oder gegen die Verminderung des Infektionsrisikos. Sie ist keine einmalige Entscheidung, sondern muss immer wieder aufs Neue gefällt werden. Die Entscheidung ist abhängig von einer Vielzahl verschiedenster Faktoren und Bedingungen, wie z. B. Selbstakzeptanz, der jeweiligen Situation, dem Wunsch nach Sicherheit, dem Wunsch nach Verschmelzung.“
Ja zu allen Gestaltungsformen der Sexualität
Oder an anderer Stelle: „Die Akzeptanz der schwulen Lebensformen in ihrer Vielfalt“ sei Grundvoraussetzung für die präventive Arbeit bei Schwulen und umfasse selbstverständlich „die Bejahung der Sexualität in den verschiedensten Gestaltungsformen“.
Daraus folgte, dass es ebenso Aufgabe einer sinnvollen Präventionsarbeit sei, die individuellen wie gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu verändern, um die „Solidarität unter Schwulen und deren Lebensräume zu fördern“, das Selbstbewusstsein schwuler Männer zu stützen und die Selbstbestimmung der Lebensstile zu ermöglichen.
Für Schilling, Urgestein der westdeutschen Schwulenbewegung und DAH-Mitbegründer, wurde der Beschluss zu einer der wichtigsten Grundlagen der Prävention in den nachfolgenden Jahren. Für Kampagnen, in denen der schwule Lebensstil nicht in Frage gestellt, sondern bestärkt wurde, und Präventionsbotschaften wie „Schwuler Sex sicher“ klar, unverblümt und in der Sprache der Szene vermittelt werden konnten.
Resultat geballter Bewegungs- und Lebenserfahrung
Die Autoren des Papiers hatten diese Thesen aus der Geschichte der schwulen Gesundheitsbewegung heraus entwickelt. „Empirisch belegt wurden sie erst Jahre später. Doch was die Autoren damals intuitiv und auf der Basis ihrer Bewegungs- und Lebenserfahrung konstatierten, hatte sich als richtig erwiesen“, sagt Dirk Sander, Schillings Nachfolger im DAH-Referat für schwule und bisexuelle Männer.
Lediglich die Begrifflichkeiten haben sich über die Jahrzehnte geändert. Was damals als „Selbstdiskriminierung“ und „Nichtakzeptanz des eigenen Schwulseins“ bezeichnet wurde, wird heute in Fachkreisen unter dem Terminus „internalisierte Homophobie“ diskutiert.
Auch heute elementare Erkenntnisse, dass die psychischen Belastungen durch Diskriminierung und Homosexuellenfeindlichkeit erhebliche Folgen für die HIV-Prävention haben und die Emanzipation der Schwulen deshalb Bestandteil der Prävention sein muss, waren 1989 bereits Kernaussagen.
Elementare Erkenntnisse der Public Health-Wissenschaft vorweggenommen
Selbst die „Bareback“-Debatte der vergangenen Jahre sieht Sander in dem Positionspapier vorweggenommen, warnt es doch vor den möglichen Folgen, die eine „Normsetzung der Safer-Sex-Kampagne“ mit sich bringen könne.
Mit dem Positionspapier legte die Autorengruppe nicht zuletzt die Grundlage für das, was zwei Jahre später unter anderem von Hans Peter Hauschild als „Konzept der strukturellen Prävention“, der logischen Einheit von Verhaltens- und Verhältnisprävention, ausformuliert wurde – bis heute tragender Pfeiler der Aidshilfe-Arbeit in Deutschland.
Positionspapier Schwule und Aids 1989