Brasilien gilt wegen der Eigenproduktion von HIV-Generika und der kostenlosen HIV-Behandlung als vorbildlich. Vor allem Entwicklungs- und Schwellenländer haben von der Voraussicht, aber auch dem Mut des Landes profitiert. HIV-Aktivist Peter Wiessner über das „Modell Brasilien“ und die Frage, was davon bleibt
Ein paar Zahlen reichen aus, um das HIV-Bedrohungsszenario für Brasilien deutlich zu machen: Nach Angaben der Gesundheitsbehörden leben dort derzeit rund 720.000 Menschen mit HIV, zwischen 2002 und 2012 wurden pro Jahr durchschnittlich 37.000 neue Infektionen diagnostiziert. Die Epidemie konzentriert sich wie bei uns auf besonders vulnerable, also „verletzliche“ Gruppen: Die höchste HIV-Rate findet sich mit 10,5 Prozent bei schwulen Männern, gefolgt von 5,9 Prozent unter intravenös Drogengebrauchenden und 4,0 Prozent unter weiblichen Sexarbeiterinnen. Die HIV-Rate in der Allgemeinbevölkerung lag 2011 bei 0,4 Prozent.
Nach Angaben der Regierung stabilisieren sich die Neuinfektionszahlen. Sie sind im Vergleich zu unserer Situation zwar sehr hoch, ohne das mutige und frühe Handeln der Regierung und die Einbindung der Zivilgesellschaft wären sie aber sicherlich noch höher.
Als Südafrika noch Knoblauch empfahl …
Wie wichtig und erfolgreich eine Politik ist, die sich mit den Realitäten auseinandersetzt, auf Rationalität gründet, die weder verleugnet noch die Schuld bei anderen sucht, zeigt der Vergleich mit Südafrika: Als die Regierung dort die Existenz von HIV noch leugnete, den Zugang zur Therapie verwehrte und den Sterbenden Knoblauch und Vitaminpillen empfahl, stemmte sich die Regierung Brasiliens mit Konzepten und Taten gegen die sich abzeichnende Katastrophe.
Die wichtigsten Bestandteile des „brasilianischen Modells“ waren von Anfang an der Kampf gegen Patente der Pharmaindustrie und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Präventionsplanung und -umsetzung.
Die Medikamente waren angesichts der Infektionsraten für das nationale Gesundheitsbudget schlichtweg zu teuer, sodass sich die Regierung schon früh zum Ziel setzte, die Kosten der HIV-Medikamente zu senken und die lebenserhaltende Therapie allen zur Verfügung zu stellen. Seit 1984 ist in Brasilien das Recht auf Gesundheit in der Verfassung verankert. Zu diesem Recht gehört der kostenlose Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem. Das Gesetz Nr. 9313 aus dem Jahr 1996 regelt zudem das Recht aller Betroffenen auf kostenlosen Zugang zur HIV-Behandlung. Private Krankenversicherungen wurden zur Kostenübernahme der HIV-Medikamente gezwungen.
Da gesetztes Recht aber nicht reicht und Paragrafen alleine zur Behandlung kaum geeignet sind, leitete die Regierung auch die lokale Produktion von HIV-Nachahmerprodukten (Generika) in die Wege. Das Land hatte und hat durch seine große pharmazeutische Industrie die nötigen Kapazitäten, und bis 2001 konnten denn auch acht der damals zwölf erhältlichen HIV-Medikamente im Land hergestellt werden. Der Notstand wurde durch diese couragierten Maßnahmen abgewendet.
Das letzte Hemd hat keine Taschen
Zwischen 1996 und 2000 sanken die Kosten für HIV-Medikamente durch den Wettbewerb generischer Produkte um mehr als 70 Prozent. Die Pharmaindustrie aber war empört. Die US-Regierung, seit jeher treue Vertreterin der Wirtschaftsinteressen, beschwerte sich im Februar 2001 bei der Welthandelsorganisation. Das Mantra-artig vorgetragene Argument: Das „Untergraben“ des Patentrechts werde dazu führen, dass die Industrie zum Nachteil späterer Generationen weitere HIV-Forschungsvorhaben aufgebe. Doch das Gegenteil war der Fall. Nicht eine einzige Pharmafirma musste Insolvenz beantragen, und geforscht wird seit 2001 so viel wie nie zuvor.
Brasilien war das erste Land des globalen Südens, das den universellen Zugang zur HIV-Behandlung sicherstellte, und wurde dadurch zum Vorbild für andere Länder, die sich die teuren Therapien ebenfalls nicht leisten konnten. Ohne das Vorgehen der brasilianischen Regierung wäre die Erfüllung der Globalen Entwicklungsziele nicht möglich gewesen. Millionen Menschenleben konnten gerettet werden. Dass das weniger teuer war als erwartet, ist das Verdienst Brasiliens.
TRIPS grenzt den Spielraum der Länder ein
Seit 1996 allerdings das TRIPS-Abkommen unterzeichnet wurde, das unter anderem die Patentrechte der Pharmaindustrie klärt, ist der Spielraum zur Herstellung generischer Produkte auch in Brasilien begrenzt. Dies ist vor allem für HIV-Medikamente der neueren Generation und moderne Kombinationspräparate ein Problem. Die Patentlaufzeit beträgt 20 Jahre. Ein Präparat kann in der Regel nicht mehr legal kopiert werden, wenn es bei den Behörden registriert ist.
Um allerdings ein Medikament patentieren lassen und das Monopol darauf halten zu können, muss die Industrie belegen, dass es sich um eine wirkliche Innovation handelt. Hier haben die brasilianische Zivilgesellschaft und die Regierung immer wieder genau hingeschaut. Das Patent auf das HIV-Medikament Tenofovir der Firma Gilead zum Beispiel wurde im April 2008 verweigert, nachdem nachgewiesen werden konnte, dass die Substanz bereits seit den 80er-Jahren bekannt gewesen ist und deshalb mitnichten eine Innovation darstellt.
Und ewig grünen die Wälder …
Solche Fälle sind für die Industrie schmerzlich, und da manchmal offenbar 20 Jahre satter Verdienst an einem Präparat nicht ausreichen, versucht man Medikamente bisweilen geringfügig zu verändern oder in Form neuer Kombinationspräparate herauszugeben, um sie dann erneut patentieren zu lassen – „Evergreening“ heißt das im Fachjargon, eine (Pflanze) immer am Grünen halten oder zum Immergrün machen …
Die Einkommenslage der Pharmaindustrie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich verbessert. Die Anteilseigner können nicht klagen, und ein Ende des Geldsegens ist dank der Entwicklung neuer Medikamente nicht in Sicht. Offensichtlich ist dies derzeit vor allem im Bereich innovativer Hepatitis-C-Medikamente, für die mit nichts zu rechtfertigende Rekordpreise verlangt werden: Etwa 90.000 Dollar kostet eine Behandlung mit dem Präparat Sofosbuvir, während die realen Medikamentenkosten nach Berechnungen des englischen Wissenschaftlers Andrew Hill bei Größenordnung von 150 bis 250 US-Dollar pro Person liegen.
Ist Hepatitis C ein Notfall?
Das TRIPS-Abkommen sieht die Möglichkeit von Zwangslizenzen vor, wenn in den öffentlichen Gesundheitsdiensten der Notstand ausbricht. Was jedoch so ein Notfall sein könnte, ist Interpretationssache. Stellen die weltweit geschätzten 170 Millionen Menschen mit einer Hepatitis C für die Gesundheitsbudgets der Länder einen Notfall dar?
Ihre Behandlung würde entsprechend den Wünschen der Pharmaindustrie über 10 Billionen Euro kosten, orientiert an den realen Kosten zwischen 25 und 42 Milliarden. Klar ist, dass sich die meisten der Entwicklungsländer die Phantasiepreise der Industrie nicht leisten können – da viele Patienten mit einer Hepatitis C keine 20 Jahre warten können, bis das Patent der Medikamente abgelaufen ist, droht ihnen der vermeidbare Tod – wenn die Industrie nicht einlenkt. Sinken werden die Preise für die neuen Hepatitis-C-Medikamente wohl nur dann, wenn mit Zwangslizenzen gedroht wird.
Brasiliens Kampf scheint sich zu widerholen. Das Land hat in Bezug auf HIV beispielhaftes geleistet. Die Frage, ob und wie der globale Zugang zu Hepatitis-C-Therapien sichergestellt werden kann und ob das Land dazu erneut einen Beitrag leistet, ist derzeit jedoch vollkommen offen.
Kontakt: Peter-wiessner@t-online.de
Quellen:
http://www.medico.de/material/rundschreiben/2009/01/positive-kaempfe/
http://www.deolhonaspatentes.org.br/default.asp?idiomaId=2
http://news.doccheck.com/de/41490/hepatitis-c-therapie-wirkung-um-jeden-preis/