Auf Initiative des Bremer Netzwerkes behinderter Frauen und Selbstbestimmt Leben e.V. fand am 28.08.2008 im Bremer Haus der Wissenschaft eine öffentliche Veranstaltung statt, in der es um die gynäkologische Unterversorgung von Frauen mit Beeinträchtigungen ging. Ferner beteiligten sich die Bremer Landesbeauftragte für Frauen, der Bremer Behindertenbeauftragte, die Senatorin für Gesundheit sowie je ein_e Vertreter_in der Bremer Ärztekammer und des Berufsverbandes der Frauenärzte an der Diskussion.
Behandlungsstuhl größtes Hindernis
Dargestellt wurde zunächst der Status Quo: Barrierefreie Praxen sind (nicht nur in der Gynäkologie) eine Rarität, zudem gibt es kaum verlässliche Informationen über die tatsächlichen Bedingungen vor Ort. Viele Angaben – gerade im Internet – beruhen auf Selbsteinschätzungen der Ärzt_innen. Welche Kriterien dabei zugrunde gelegt werden bleibt unklar. Und Barrierefreiheit im Kontext der Gynäkologie bedeutet nicht nur einen schwellenlosen Zugang zur Praxis zu haben, sondern auch eine barrierefreie Toilette, sowie Platz (für Rolli, Hebelifter, Assistentin) und Zeit zum Aus- und Ankleiden. Das größte Hindernis ist jedoch der Behandlungsstuhl, der fast nie genügend absenkbar ist – eine Behindertenzeitschrift schrieb einst von der „Besteigung des Mount Gyn“[1], für die körperlich beeinträchtigte Frauen gegebenenfalls auf einen Hebelifter zurückgreifen können müssen. Diese Voraussetzungen erfüllte keine der Praxen in Bremen. Die betroffenen Frauen müssen sich mit Kompromissen arrangieren, die oft zu Lasten ihrer Würde und ihres Selbstwertgefühls gehen. Da muss frau sich dann „irgendwie“ auf den Behandlungsstuhl zerren und oftmals auch unwürdig behandeln lassen, denn auch an der Barrierefreiheit in den Köpfen von Ärzt_innen mangelt es häufig.
Ausbildung bereitet nicht auf Frauen mit Beeinträchtigungen vor
Viele berichten von der Erfahrung, nicht als Frau, sondern lediglich als Behinderte angesehen zu werden. Oftmals merkt frau, dass die Ärzt_innen das gängige Vorurteil verinnerlicht haben, nach dem behinderte Frauen als geschlechtslos angesehen und ihnen Sexualität, Partnerschaft und Familiengründung abgesprochen werden. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Ärzt/innen unsicher sind, wie sie sich gegenüber ihren behinderten Patientinnen verhalten sollen. Viele wissen nicht, ob und wenn ja inwiefern bestimmte Beeinträchtigungen oder chronische Krankheiten gynäkologische Auswirkungen haben, denn Frauen mit Beeinträchtigungen kommen in der gynäkologischen Ausbildung nicht vor, werden als potentielle Patientinnen nicht mitgedacht. Als Konsequenz aus diesen negativen Erfahrungen gehen viele behinderte Frauen nicht regelmäßig oder gar nicht zu den Früherkennungsuntersuchungen und haben auch keine_n feste_n Gynäkolog_in, woraus sich schwerwiegende Gesundheitsrisiken ergeben. Oft erfolgt der Gang zur Gynäkologin erst dann, wenn Beschwerden massiv geworden sind, es sich also unter Umständen schon um eine fortgeschrittene Erkrankung handelt, die nicht mehr oder nur langwierig behandelt werden kann. Eine Beeinträchtigung zu haben, kann so lebensgefährlich werden.
Diese Problematik betrifft nicht nur körperlich beeinträchtigte Frauen. Auch Frauen mit Beeinträchtigungen, die die Kommunikation betreffen, wie schwerhörige oder gehörlose Frauen und solche mit Sprach- oder Lernbeeinträchtigungen berichten immer wieder von massiven Problemen beziehungsweise verzichten auf den Gang zu_r Ärzt_in. In der Gesamtschau handelte es sich hierum einen unhaltbaren Zustand, der dringend der Veränderung bedurfte.
Ziel: Flächendeckende Versorgung mit barrierefreien Praxen
Zum Zeitpunkt der Veranstaltung gab es in Frankfurt, Berlin und München gynäkologische Sprechstunden für behinderte Frauen in barrierefreien Räumlichkeiten mit entsprechenden Hilfsmitteln (Hebelifter, Assistenzperson) und Ärztinnen, die auf behinderte Patientinnen eingestellt waren und ausreichend Zeit hatten. Allerdings gab es hier keine freie Arztwahl, auch hatten viele Frauen lange Anfahrtswege. Derartige Angebote sollten nur als Zwischenlösung eingerichtet werden, wünschenswert wäre eine flächendeckende Versorgung mit barrierefreien Praxen.
Barrierefreie gynäkologische Ambulanz in Bremen
Alle an der Veranstaltung Beteiligten waren sich einig, dass Abhilfe bzw. ein barrierefreies Angebot geschaffen werden musste. Es gründete sich ein Runder Tisch, an dem außer den genannten Akteur_innen noch Vetreter_innen der kassenärztlichen Vereinigung und einiger Krankenkassen teilnahmen. Der Runde Tisch hatte zu klären, wie ein solches Angebot aussehen könnte, wo es räumlich angesiedelt werden konnte, welche Organisationsform sinnvoll wäre und natürlich auch, wie das Ganze zu finanzieren wäre.
Aufgrund der spezifischen Bedingungen in Bremen kristallisierte sich heraus, dass analoge Angebote zu den oben genannten in anderen Städten nicht umsetzbar waren, ein eigener Weg entwickelt werden musste. Als Ergebnis eines intensiven und nicht immer einfachen Diskussionsprozesses wurde am 7.10. 2011 die barrierefreie gynäkologische Ambulanz[2] in der Frauenklinik am Bremer Klinikum Mitte eröffnet. Das Klinikum bot von allen möglichen Standorten die besten Bedingungen: zentrale Lage, relativ gute Anbindung an den ÖPNV, barrierefreies Gebäude, barrierefreie Toilette in unmittelbarer Nähe der großzügigen Behandlungs- bzw. Umkleideräume. Dank der finanziellen Unterstützung einer Stiftung und der Senatorin für Gesundheit konnten ein höhenverstellbarer Behandlungsstuhl, eine breite höhenverstellbare Liege (zum Aus- und Anziehen) sowie ein Hebelifter angeschafft werden. Die Untersuchungstermine teilen sich mehrere niedergelassene Gynäkolog_innen, die „rotierend“ jeweils mittwochnachmittags die Sprechstunde abhalten; darüber ist zumindest in Ansätzen eine freie Ärzt_innenwahl ermöglicht. Unterstützt werden sie vom Personal der angrenzenden gynäkologischen Station, das in die Benutzung des Hebelifters eingewiesen wurde[3].
Frauen mit Beeinträchtigungen reagieren zurückhaltend
Dass es diese Ambulanz, die erste und einzige im Raum Norddeutschland nun gibt, ist ein Erfolg unter anderem des Engagement behinderter Frauen und der genannten Unterstützer_innen. Nachdenklich stimmt jedoch, dass die Nutzung sehr schleppend anlief, die angebotenen Untersuchungstermine nicht immer ausgebucht sind. Woran das liegt, kann mangels Begleitforschung nur gemutmaßt werden: Schreckt der Standort Krankenhaus ab? Liegt es daran, dass Termine nur abends vereinbart werden können, wenn frau das Thema gar nicht mehr „auf dem Schirm“ hat[4]? Wissen immer noch viele Frauen nichts von dem Angebot? Oder ist auch in diesem Setting die Angst vor Entwürdigung und Nicht-Ernstgenommenwerden, die Angst ob man dem Angebot trauen kann, immer noch zu groß? Die Resonanz auf das Angebot eines Tages der offenen Tür, der zum einjährigen Bestehen durchgeführt wurde, weist auf letztes hin: Die Besucherinnen nutzten gern das Angebot, sich die Ambulanz und ihre Ausstattung ganz unverbindlich zeigen zu lassen, und wollten sich dann um einen Termin kümmern.
Doch unabhängig davon, wie hoch die Auslastung noch werden wird: Es braucht ein flächendeckendes Angebot barrierefreier Praxen und, ebenso dringend, eine angemessene Vergütung für die Betreiber_innen solcher Praxen. Derzeit erfolgt die Vergütung unabhängig davon, welcher Zeitaufwand nötig ist. Bei Patient_innen mit Beeinträchtigungen ist er jedoch oftmals höher als bei solchen ohne – solange dies nicht in der Vergütung berücksichtigt wird, werden viele Ärzt_innen nur geringes Interesse an der Behandlung dieser Patient_innengruppe haben. Darüber hinaus muss das Thema „Menschen mit Beeinträchtigungen“ in der Aus-, Fort- und Weiterbildung des medizinischen Personals einen festen Platz bekommen.[5]
UN Behindertenrechtskonvention: Unterzeichnet, aber noch nicht umgesetzt
Mit der Ratifizierung der UN Behindertenrechtskonvention hat sich die Bundesrepublik unter anderem dazu verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, die allen behinderten Menschen „Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung [stellt, S.K.] wie anderen Menschen, einschließlich sexual- und fortpflanzungsmedizinischer Gesundheitsleistungen und der Gesamtbevölkerung zur Verfügung stehender Programme des öffentlichen Gesundheitswesens“ (Artikel 25). Um dies zu erreichen, müssen die oben genannten Forderungen umgehend umgesetzt werden.
[1] Handicap 3/2005,122
[2] Träger der Ambulanz sind die Kassenärztliche Vereinigung Bremen, die Gesundheit Nord und die Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit
[3] weitere Informationen unter http://www.slbremen-ev.de/index.php?menuid=53
[4] Termine müssen über den ärztlichen Bereitschaftsdienst der kassenärztlichen Vereinigung vereinbart werden, die nur abends besetzt ist.
[5] Weitere Forderung zum Abbau von Barrieren im Gesundheitssystem listet der Parallelbericht der BRK-Allianz auf den Seiten 52-77 auf: http://www.brk-allianz.de/attachments/article/93/beschlossene_fassung_final_endg-logo.pdf