Vor drei Wochen traf ich als “Frischling” in Nairobi zu meinem ersten Einsatz überhaupt ein. Nach 33 Jahren als Landarzt in einer kleinen Gemeinde im Fichtelgebirge/Oberfranken war und ist es ein Eintauchen in eine völlig andere Welt. Der Flug und der Transfer vom Flughafen Nairobi zur Unterkunft der “German Doctors” in der Villa Zorilla auf dem Utalii-Gelände verliefen reibungslos, die Aufnahme in den Kreis der bereits im Projekt arbeitenden Kollegen war freundlich. Am Sonntag, 20.07.14, mit Barbara und Uli, den Langzeitärzten, der erste Spaziergang ins Mathare Valley in den Slum. Überall Menschen, viele Kinder, Verkaufsbuden. Ab Montag dann die Arbeit im Projekt – in medizinischer Hinsicht eine völlig neue Erfahrung. Täglich drei bis fünf Schwangere, fast täglich einige neu entdeckte HIV-Infektionen, viel Husten, bei dem, vor allem in Verbindung mit HIV, immer an eine mögliche Tuberkulose gedacht werden muss. Die Menschen, seien es unsere Mitarbeiter oder die Patienten, beeindrucken mich mit ihrer Freundlichkeit und Geduld und einer schier unglaublichen Gefasstheit trotz ihres nicht leichten Lebens und der oft schwerwiegenden Diagnosen. Jede freundliche Geste bekomme ich mehrfach zurück. Gleichzeitig wird mir bewusst, in welch nahezu paradiesischen Zuständen ich in Deutschland leben darf.
Der Arbeitstag beginnt kurz nach 07:30 Uhr mit dem Fußweg von 15 bis 20 Minuten Dauer von unserer Unterkunft zum Baraka Health Center im Außenberich des Slumgebietes. Ich fühle mich auf dem Weg sicher. Kinder kommen angelaufen, rufen im Chor “How do you do” und wollen die Hand abklatschen. Vorbei an einer Kloake, in der eine Entenfamilie ihr Futter sucht, an einer Schule in einer Wellblechbaracke, an Verkaufsständen, an Handwerksbuden und Obstständen gelange ich zum Health Center. Hier wartet kurz vor acht Uhr eine eine riesige Menge von Menschen, dass es kaum vorstellbar erscheint, diese Anflut bis zum Nachmittag 17 Uhr abarbeiten zu können.
Im zugewiesenen Untersuchungsraum wartet bereits die Übersetzerin. Die meine heisst Fetika und ist eine freundliche Frau mit großer Erfahrung, die mir, dem im Projekt Unerfahrenen, viele gute Tipps gibt. Die Zusammenarbeit ist sehr harmonisch. Sehr wertvoll ist die Möglichkeit, jederzeit Rücksprache mit den beiden Langzeitärzten Barbara und Uli nehmen zu können, die immer ansprechbar und geduldig sind. Die Arbeit ist basismedizinisch. Es ist immer lohnend und eigentlich unverzichtbar, eine genaue Anamnese zu erheben, viel nachzufragen (Husten?, Fieber?, Gewichtsverlust?, Nachtschweiß?, Kontakt zu TB-Fällen?, Fluor/Ausfluss?, relevante Vorerkrankungen?, werden Medikamente genommen?) und stets eine möglichst komplette Untersuchung vorzunehmen. Schwierig ist auch für einen “altgedienten” Landarzt die Beurteilung von Hautveränderungen auf der dunklen Haut unserer Patienten. Ich empfehle jedem, der nach Nairobi kommen möchte, sich die CD mit der dermatologischen Fallsammlung des Kollegen Hügel reinzuziehen. Für chirurgische Fälle ist ein Fachkollege im Projekt, ebenso ein Kinderarzt für die vielen pädiatrischen Probleme. Bei der Ausstattung der Untersuchungsräume vermisse ich ein Blutdruckmessgerät. Der Blutdruck wird zwar draußen bei der Patientenannahme bereits gemessen, die Verwertbarkeit dieser Werte erscheint mir aber nicht ausreichend gesichert. Auch bei der Aufnahme-Triage erscheint mir manches ab und an verbesserungswürdig. Insgesamt ist aber die Arbeit der kenianischen Mitarbeiter hervorragend. Mit den zwangsläufig begrenzten Mitteln werden gute Ergebnisse erreicht. Eher müssen wir deutschen Projektärzte lernen, uns auf das Notwendige und für die Patienten wirklich Wichtige in Diagnostik und Therapie zu beschränken. Bei der Arbeit mit den vorhandenen Ressourcen sind die nationalen und internationalen Leitlinien eine unverzichtbare Hilfe, in deren Vermittlung an die Sechswochen-Ärzte ich eine wichtige Aufgabe für die Langzeitärzte sehe.
Das unseren Patienten zur Verfügung stehende landesübliche Gesundheitswesen weist nach meinem Eindruck nach drei Wochen leider erhebliche Mängel auf. Es gibt zwar gute Kliniken, die aber nur gegen Bares tätig werden und die für unsere Patenten unerschwinglich sind. Die zahlreichen “Pharmacies”, oft die erste Anlaufstelle für die Patienten, stellen auch gleich die Diagnosen, meistens “Malaria” und “Typhoid Fever”, auch bei Patienten, die weder entsprechende Symptome aufweisen noch überhaupt, wie bei Malaria in Nairobi, Gelegenheit zur Übertragung hatten, und denen dann für viel Geld die entprechenden Medikamente verkauft werden. Vor diesem Hintergrund ist das Baraka Health Center für die Bewohner des Mathare Valley Slums eine besonders wertvolle Einrichtung.
Zum Slum und seiner Struktur: Ich hatte vorab eine falsche Vorstellung vom Slum und seinen Bewohnern. Sicher gibt es auch furchtbare Armut und große Not, aber der Slum ist nicht nur das Elendsquartier für die Gescheiterten, Hoffnungs- und Chancenlosen, sondern auch eine reine Low-Budget-Durchgangsstation für Menschen, die aus dem Umland nach Nairobi strömen, um hier mehr Geld zu verdienen, als es ihnen “upcountry” möglich ist. Jeden Morgen, wenn ich ins Mathare Valley zur Arbeit hineinlaufe, kommen mir Menschen in Anzügen oder sonst erstaunlich ordentlichem Outfit entgegen, die unterwegs zu ihrer Arbeitsstätte sind. Dass sie dabei vorübergehend oder auch für längere Zeit im Slum unter für uns Europäer recht unappetitlichen Bedingungen leben müssen, das ist den Kenianern offenbar ziemlich egal. Im Slum können wir uns, zumindest in der Umgebung von Baraka und am Tag, sicher bewegen. Bei Nacht ist es auf den Straßen in ganz Nairobi unsicher, das sollte beachtet werden. Und Opfer von Taschendieben kann man in den großen Städten Europas auch werden.
Nach drei Wochen im Projekt ist mein Eindruck der, dass man hier für sich sehr viel lernen kann, sowohl fachlich als auch ganz für sein Weltbild. Ganz nebenbei ist es nach über dreißig Jahren Tätigkeit als Dienstleister in einem “All-inclusive-Medizinbetrieb” mit entsprechendem Anspruchsdenken der Kundschaft nicht unangenehm, das Gefühl zu haben, wirklich wichtige Arbeit tun zu können und nicht selten für die damit verbundenen Einschränkungen und Belastungen auch einiges von den Menschen hier zurück zu erhalten. Man muss es ja nicht immerzu machen, aber so ab und zu ist sicher kein Akt altruistischer Selbstaufopferung.
Mit herzlichen Grüßen aus Nairobi
Dr. Peter Fülle
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