Mein Name ist Hermann Biggel. Nach 30-jähriger Praxistätigkeit als Allgemeinarzt entschloss ich mich, meine Erfahrungen auch armen Menschen zugute kommen zu lassen, indem ich sechs Wochen in einem der Projekte der German Doctors ehrenamtlich arbeite. In mehreren Vorbereitungsseminaren werden wir Ärzte vor dem Ersteinsatz auf die spezifischen medizinischen Probleme in Entwicklungsländern, auf die Besonderheiten im jeweiligen Land und v.a. auf die finanzielle Mittelbegrenzung sehr gut vorbereitet. Auch die zur Verfügung gestellten Guidelines sind äußerst hilfreich, um Patienten mit einfachen Mitteln rasch zu helfen. Die westliche Medizin unterscheidet sich von der Medizin in der dritten Welt dadurch, dass zur Diagnosesicherung in ersterer oft eine Fülle von Befunden gesammelt werden, bevor mit der Therapie begonnen wird (Labor, bildgebende Verfahren wie CT oder MRT, oder Einholung diverser Facharztbefunde). Dies ist in Entwicklungsländern aufgrund der Armut der Patienten meist nicht möglich.
Ich bin für die GERMAN DOCTORS erstmals auf den Philippinen, um einen sechswöchigen Einsatz zu leisten. Diese Organisation hat drei Projekte auf den Philippinen aufgebaut, die seit über 25 Jahren mit allergrößtem Engagement vorangetrieben werden. Für mich ist eine vierwöchige Mitarbeit im Armenhospital in Cagayan de Oro auf der Insel Mindanao geplant, das am Rande einer 580.000 Einwohner großen Stadt liegt. Daran anschließend folgt eine zweiwöchige Tätigkeit in einer ROLLING CLINIC. Ziel dabei ist die basismedizinische Versorgung für die Menschen im Inselinneren.
Am ersten Arbeitstag stellte mich der Langzeitarzt Dr. Martin Grau in aller Ruhe und Gelassenheit, trotz einer Vielzahl wartender Patienten, dem Klinikpersonal vor, so dass ich gleich einen Überblick über die Klinikeinrichtungen erhielt.
Auf meinem Schreibtisch häufte sich bereits ein Stapel von Karteikarten, die unsere pfiffige und äußerst verantwortungsvolle Dolmetscherin und Healthworkerin ordnete.
Von den Krankheitsbildern waren die extreme Anzahl und die Schwere von Schilddrüsenüberfunktionen und Krampfleiden bemerkenswert. Die Behandlung erfolgt jeweils symptomorientiert ohne fachärztliche Mitbeurteilung. Dazwischen viele Erkältungen, Hauterkrankungen, Lungenentzündungen und derzeit (jahreszeitbedingt) eine zunehmende Anzahl von Dengue Fieber-Erkrankten. Auch werden schwerst unter- und fehlernährte Kinder mit Erkrankungen wie Tuberkulose oder Wurmerkrankungen vorstellig. Durch die Fehl- oder Unterernährung resultiert eine Immunschwäche, die die Infektion mit weiteren Krankheiten leider begünstigt.
Die Tätigkeit in der Klinikambulanz ist täglich aufs Neue äußerst spannend, da sie so vielseitig ist: Ich sehe jeden Tag neben den vielen Allgemeinerkrankungen wie fieberhafte Erkältungen, Magen– und Darmbeschwerden oder Harnwegsinfekten, teils schwerst erkrankte Patienten mit riesigen Abszessen, bisher unklaren Lähmungen ausgehend von angeborenen Wirbelsäulenerkrankungen. Diese Missbildungen wären z.T. vermeidbar, wenn den Frauen während der Schwangerschaft vorbeugend B-Vitamine und Folsäure verabreicht werden könnten.
Auch gaben mir vergangene Woche zwei Lepraerkrankte Rätsel auf.
Darüberhinaus sind viele Kinder mit angeborenen und teilweise durch rheumatische Erkrankungen verursachte Herzfehler in der Klinikambulanz, die mit herzentlastenden Medikamenten behandelt warden müssen, weil eine eigentlich nötige größere Herzoperation nicht finanziert werden kann. Sicherlich ist die Häufung der Schwerstkranken in dieser Klinik durch die Überweisung der umliegenden kleineren Krankenhäusern und der ambulant nicht weiter behandelbaren oder weiter diagnostizierbarer Patienten der ROLLING CLINIC zu erklären.
Viel Zeit beansprucht in der ambulanten Kliniktätigkeit die Behandlung der vielen Epilepsiepatienten, welche durch krampfunterdrückende Medikamente therapiert und engmaschig kontrolliert werden.
Ursächlich für die gehäuft auftretenden Gehirnerkrankungen sind die enorme Anzahl
an Tuberkulosepatienten und teilweise auch Wurmerkrankungen, die das Gehirn mitbefallen können. Für mich auffällig ist, wie gelassen die Menschen mit Krampfleiden umgehen. Während der heutigen Vormittagssprechstunde kam plötzlich ein Ruf aus dem Wartebereich, in dem sich etwa 40 Patienten befanden – “Doktor”. Die daneben stehenden Patienten hielten eine krampfende Frau fest, so dass mir nur noch die Aufgabe verblieb, die Patientin auf eine Wartebank zu legen und sie vor Verletzungen zu schützen. Nach dem Krampfanfall verblieb sie schlafend auf der Bank inmitten der Wartenden. Der Grund für ihren erneuten Krampfanfall war, dass die Patientin die Medikation seit einer Woche unterbrach, weil sie die finanziellen Mittel zum Kauf der Tabletten nicht mehr aufbringen konnte.
Für mich bemerkenswert ist auch die Häufigkeit der fieberhaften Viruserkrankungen, wozu sicherlich auch die extreme Luftverschmutzung in den Großstädten beiträgt. Man kann allerorts hunderte stinkender Jeepneys (umgebaute Militärjeeps aus der amerikanischen Besatzungszeit) und älteste, aus Motorrädern zusammengebastelte Kleintaxis, durch die Stadt rattern sehen.
Einen großen Raum in unserer Projektarbeit nimmt auch das SOZIALE SCREENING ein, da in dem Projekt der GERMAN DOCTORS nur die ärmsten Menschen behandelt werden können. Beim Anlegen der Krankenakte werden die Patienten oder Betreuer genauestens befragt nach Einkommen (die meisten sind arbeitslos oder können höchstens einer Teilzeittätigkeit nachgehen), Kinderzahl (viele Familien sind kinderreich und haben zwischen 7 und 13 Kinder), Anzahl der im Haushalt mitzuversorgenden Familienangehörigen und Art der Behausung (Hütte, Gemeinschaftsunterkünfte).
Nimmt die Erkrankung einen chronischen Verlauf oder wird sie aus anderen Gründen sehr aufwendig, erfolgt durch eine Sozialarbeiterin und einen Healthworker ein Hausbesuch, bei dem die soziale Situation des Patienten kontrolliert wird.
Da die Medikation und die medizinischen Untersuchungen in unserem Projekt, bis auf einen geringen Eigenanteil, für die Patienten kostenlos sind, ist das Missbrauchsrisiko oft sehr hoch. Dieses soll durch das Social Screening und die Hausbesuche minimiert werden. Wir wollen den armen Patienten helfen, die sich eine alternative Behandlung im normalen philippinischen Gesundheitssystem nicht leisten können. Erschreckend fand ich, dass die meisten Medikamente hier extrem teuer sind, teilweise teurer als in deutschen Apotheken!!
Aufgeschrieben von Dr. Hermann Biggel
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