Heute war wieder einer da…ein 79-jähriger aus Südeuropa.
Er kam zur Besprechung seiner Laborwerte. Wir haben da unser Ritual. Ich lege ihm den Ausdruck aus dem Labor vor, er setzt seine Brille auf. Dann lese ich ihm die Werte vor, sage wofür sie sind (z.B Leberwerte) und beurteile das Ergebnis. Danach gebe ich ihm den Ausdruck für seine Unterlagen mit. Das mache ich bei den meisten älteren Patienten so.
Einmal war seine Frau alleine da und sagte in einem Nebensatz: “Sie wissen schon, dass mein Mann nicht lesen kann, aber das darf niemand wissen, weil es ihm unangenehm ist.”
Mir ist das tatsächlich nicht aufgefallen. Er scheint im Alltag gut zurecht zukommen, wie viele der anderen 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland. Als Kind auf dem Dorf im Süden hat er das Schreiben und Lesen nicht gelernt. Früher im Geschäft hat ihm seine Frau geholfen und übernimmt auch heutzutage den “Papierkram”.
Also mache ich weiter mit dem Ritual, lese ihm die Werte vor, so dass er seine Würde bewahren kann.
Es sind aber nicht nur diese älteren Leute mit Kindheiten auf dem Land oder in anderen Ländern, es sind Leute in jedem Alter und von unterschiedlichster Intelligenz.
Alle Kinder lernen lesen…in den ersten beiden Schuljahren, denkt man. Das ist aber nicht so und ist in unserer heutigen Welt ein riesiges Handicap. Man kann nur die Augen offen halten und ggf. Hilfe anbieten.