Bluter, blind und HIV-infiziert

Das Schicksal hat den Südtiroler Markus Telser gleich mehrfach an seine Grenzen gebracht: Er ist an Hämophilie erkrankt, wurde durch Blutgerinnungsmittel mit HIV infiziert und ist binnen kurzer Zeit erblindet. In „Wahnsinn: Leben“ erzählt er seine Geschichte. Von Axel Schock

Wie viel Leid und Schicksalsschläge vermag ein Mensch zu ertragen? Wie oft kann man sich aufrappeln, neue Hoffnung schöpfen oder zumindest durchhalten? Markus Telser, 1966 im Südtiroler Vinschgau geboren, hat sich diese Fragen immer wieder stellen müssen. Und einige Male schien er daran zu verzweifeln, ihm fehlte die Kraft zum Kämpfen.

Was er seit so vielen Jahre durchmachte, sei kein Leben mehr gewesen, resümiert Telser in seinem gemeinsam mit der Journalistin Christine Losso verfassten Buch. „Vielmehr war es ein Dahinvegetieren … Ich empfand mein Dasein als trostlos, leer und verloren.“ Sich selbst sah er als Loser und nur noch als Last für andere. In solchen Momenten erschien der Freitod die einzig realistische Option.

Der Freitod erschien als die einzig realistische Option

Bereits in früher Kindheit wird bei Markus Telser Hämophilie A, die sogenannte Bluterkrankheit diagnostiziert. Sie wird ihm zeitlebens starke Schmerzen, später sogar Knochenschäden bescheren und seinen Alltag wie auch den seiner Familie prägen.

Seine Kindheit ist belastet von langen Fahrten in die Klinik nach Innsbruck, wo ihm die notwendigen Medikamente intravenös verabreicht werden. Später gelingt es, das überlebenswichtige Blutplasmaprodukt an die örtliche Apotheke liefern zu lassen und einen verständigen Gemeindearzt zu finden, der in akuten Fällen auch mitten in der Nacht gerufen werden kann.

Als 1985 die Medien über die neue heimtückische Immunschwächekrankheit berichten, bleibt Markus Telser zunächst erstaunlich gelassen. „Ich wollte mich nicht betroffen fühlen, obwohl auch immer mehr die Bluter neben den Homosexuellen als Risikogruppe genannt wurden. Ich verdrängte diese Fakten einfach.“

„Ich wollte mich nicht betroffen fühlen“

Erst als die Nachrichten vom raschen Sterben der Erkrankten und den stetig steigenden Todeszahlen sich häufen, schwindet seine Ruhe. Zu einem Test aber kann er sich dennoch nicht durchringen. Auch Anfang der 1990er-Jahre funktioniert sein Abwehrmechanismus noch. Zwar achtet er bei sich auf mögliche Zeichen einer Erkrankung, aber wenn das Thema zur Sprache kommt, schaltete sich Telser einfach aus den Gesprächen aus. „Ich war bis dahin felsenfest davon überzeugt gewesen, dass Aids sich nur Homosexuelle und jene Menschen holen, die ungeschützten Geschlechtsverkehr mit Frauen in den Bordellen vollziehen.“

Doch 1992 wird er dann überraschend mit den Tatsachen konfrontiert: Bei einer hämophiliebedingten Arthrose-Behandlung wird bei Telser eine HIV-Infektion festgestellt – und fortan behandelt man ihn im Meraner Krankenhaus wie einen Aussätzigen. „Alle Krankenschwestern, die mein Zimmer betraten, trugen sterile Kleidung und vermieden tunlichst den persönlichen Kontakt mit mir“, schildert er die erniedrigende Situation.

Welche Auswirkungen die Diagnose für ihn hat, davon berichtet Telser vergleichsweise knapp. Seine erste Ehefrau vermeidet – aus Angst vor einer Infektion – intensive Küsse. Nur die wenigsten Menschen wissen überhaupt von der Infektion. Selbst seine Mutter erfährt davon nur versehentlich – durch den behandelnden Arzt. Was Telser nicht explizit thematisiert, was aber zwischen den Zeilen herauszulesen ist, sind die Isolation, in der er sich als HIV-Positiver im ländlichen Raum befindet, und die Angst vor Stigmatisierung. Und selbst unter anderen HIV-Positiven nimmt er als Bluter einen „Exotenstatus“ ein.

Unter den HIV-Positiven hat er als Bluter einen „Exotenstatus“

Bezeichnend dafür ist die Schilderung einer Gruppenreise, die sein Arzt ausgekundschaftet und ermöglicht hatte. Gemeinsam mit anderen HIV-Positiven sollte Markus Telser samt Frau und Kind entspannende Tage in der Türkei verleben.

Was als aufbauendes Erlebnis gedacht war, schlägt ins Gegenteil um. „Uns wurde schnell bewusst, dass die Gruppe so rein gar nichts mit uns und unserem Leben zu tun hatte“, erinnert sich Telser an die extrem gegensätzlichen Lebenswelten, die in dem Ferienhotel aufeinanderprallten. Auf dem gemeinsamen Programm standen beispielsweise Pranatherapie, Reiki- und Shiatsu-Workshops, Dinge, von denen weder er noch seine Frau je etwas gehört hatten und die ihnen das Gefühl geben, „dumm und provinziell“ zu sein.

Bald wird den beiden klar, dass der Großteil der Mitreisenden mit Drogenproblemen zu kämpfen hat und mit Methadon substituiert wird. Telser und seine Frau bleiben Außenseiter und kapseln sich immer mehr von den anderen ab. Als sich dann bei den Hotelgästen herumspricht, dass sie das Haus mit HIV-Positiven teilen, kann von entspannten Urlaubstagen kaum mehr die Rede sein.

Die Ehe geht in die Brüche, der Freundeskreis bröckelt

Als Markus Telser infolge einer Infektion binnen weniger Wochen auch noch das Augenlicht verliert, bricht sein altes Leben endgültig in sich zusammen. Seinen Beruf kann er nicht mehr ausüben, die Blindheit nimmt ihm die Unabhängigkeit. Er betrinkt sich immer häufiger, wird depressiv. In der Folge geht die Ehe in die Brüche, und der Freundeskreis bröckelt. Sein Leben war – wieder einmal – an einem Endpunkt angekommen, an dem er weder Sinn noch Notwendigkeit fürs Weitermachen sah.

Dass ihm dennoch der Weg aus diesem Tal gelang, ist zwei wichtigen Veränderungen in seinem Leben zuzuschreiben. Zum einen verbessern sich Mitte der 90er durch die neuen HIV-Medikamente zunehmend seine Blutwerte (er wird in der Einführungsphase als Testperson ausgewählt), zum anderen bekommt er mit Sam einen treuen Begleiter. Eine Spende ermöglichte ihm den Kauf des Blindenhundes, seines „schwarzen Ferraris“, wie Markus Telser ihn scherzhaft nennt.

Mit Sam an seiner Seite erlangt er wieder Freude am Leben

Mit Sam an seiner Seite erlangt er im besten Sinne mehr Bewegungsraum, und mit der neuen Selbstständigkeit auch wieder Freude am Leben. Zudem wird der Sport zum wichtigen Ausgleich und euphorisierenden Moment. Erster Höhepunkt ist die Teilnahme an einem 15-Kilometer-Lauf rund um den Tiroler Reschensee, später traut sich Telser sogar Gleitschirmfliegen und Indoor-Klettern zu.

BuchcoverDie Krankheit hat ihre Spuren hinterlassen, nicht nur äußerlich, bilanziert Markus Telser. Nurmehr seine alte Hülle sei übriggeblieben. „Ich hatte mich aus meinem Kokon geschält und mich neu entfaltet.“ In dieser schwierigen Zeit habe er gelernt, sich und seine Einschränkungen anzunehmen und nicht mehr dafür zu kämpfen, sein Augenlicht zurückzubekommen.

„Es ist mir gelungen, trotz alledem, ein zufriedener und in vielen Momenten glücklicher Mensch zu werden, wenn auch unter völlig anderen Voraussetzungen.“

Christine Losso: Wahnsinn: Leben. Markus ist Bluter, HIV-infiziert, blind“. Verlagsanstalt Athesia Bozen, 280 S., 14,90 Euro


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