Bernd Aretz betreut beim Nationalen AIDS-Beirat zurzeit die Arbeitsgruppe „Gesundheit und Haft“. Er erzählt uns, was ihm bei der Lektüre des Handbuchs „Gesundheit und Haft“ durch den Kopf gegangen ist, das Marc Lehmann und andere 2014 „für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit“ herausgegeben haben.
Billig ist es mit seinen 60 Euro ja nicht gerade, aber das Geld ist gut angelegt. Man erhält eine facettenreiche Beschreibung des Alltags rund um die Haft. Angesichts der Verweigerung bayerischer Haftmediziner, die Standards der Suchtmedizin einzuhalten und die Substitutionsbehandlung anzubieten, mag das Handbuch „Gesundheit und Haft“ ein Tabubruch sein. Aber je intensiver ich mich mit den Fragen an die Gefängnismedizin beschäftige, desto mehr Respekt bekomme ich vor dem, was Einzelne in jenem System leisten.
„Skandalöse Missstände gibt es zuhauf“
Natürlich verstärkt sich bei der Lektüre das Unbehagen darüber, dass seit den 1970ern nicht mehr ernsthaft öffentlich über Sinn und Zweck von Strafrecht, Strafverfolgung und Strafe nachgedacht wurde. Bei jedem Skandal wurde nach Verschärfungen gerufen, und völlig ohne gesellschaftliche Debatte wurde der offene Vollzug und Freigang von der erwünschten Regel zur mühsam zu verdienenden Ausnahme.
Skandalöse Missstände gibt es zuhauf. Aus der vom Gesetz ursprünglich beabsichtigten Versicherungspflicht wurde ein rechtsarmer Zustand, der nicht nur bei der Entlassung erhebliche praktische Probleme verursacht. Ohne dokumentierten Versicherungsschutz aus der Haft ab dem Entlassungstag eine Substitutionsbehandlung zu organisieren, ist selbst für einen engagierten Anstaltsarzt ein Kraftakt.
„Unangemessen schlechte Bezahlung und völliges Fehlen einer Altersversicherung“
Mit Spannung erwarte ich die Frage, ob der gesetzliche Mindestlohn nicht auch für Inhaftierte gelten muss. Welche Rechtfertigung gäbe es denn für Ungleichbehandlung? Diese besteht ja nicht nur in einer unangemessen schlechten Bezahlung, sondern auch im völligen Fehlen einer Altersversicherung, was dann über die Sozialhilfe auf dem Rücken der Kommunen ausgetragen wird. Zum Nachfühlen sei der Fall Haderthauer ans Herz gelegt. Psychisch Kranke gegen einen Hungerlohn zu beschäftigen, unterscheidet sich doch nicht sehr von der Alltagserfahrung der Strafgefangenen.
Todesfälle kurz nach der Entlassung häufen sich. Natürlich gibt es einzelne Anlaufstellen, die Gefangene engagiert und erfolgreich beim Management des Übergangs von der Haft in die vorgebliche Freiheit begleiten. Der Band, der die Tagung „Gesundheit in Haft“ in Berlin 2012 dokumentiert, stellt neben ethischen Fragen die Praxis des Vollzugs und des Hilfesystems vor. Aber je mehr positive Beispiele von gelungenen Projekten vorgestellt werden, um so mehr verstärkt sich der trostlose Eindruck, dass es kleine Ausnahmen sind, die nur dürftig die grundlegenden Mängel kaschieren.
„Viele Gefangene wurden schon als Kind seelisch schwer traumatisiert“
Neben dem ohnehin massiv belastenden Personalmangel steht die Gefängnismedizin vor besonderen Herausforderungen. Viele Gefangene wurden schon als Kind seelisch schwer traumatisiert. Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, Ausgrenzung und seelische Not gehörten zum Alltag. Die Erkenntnis der modernen Psychiatrie, dass der Heroinkonsum die adäquate pharmazeutische Antwort auf ein tiefes seelisches Leiden ist, ist zwar einsichtig, aber noch nicht mehrheitsfähig. Es gibt keine freie Arztwahl. Der gesundheitliche Allgemeinzustand vieler Gefangener ist bei der Aufnahme schlecht. Die Mehrzahl der Gefangenen verbüßt nur kurze Haftstrafen.
Die Gefängnisse sind vollgestopft mit Menschen, die eigentlich nicht dorthin gehören. Grund sind etwa Ersatzfreiheitsstrafen für Geldstrafen, die losgelöst von den individuellen Möglichkeiten der Verurteilten verhängt wurden. So gesehen war Ecclestones 100 Millionen Dollar schwerer Freikauf von den Lästigkeiten der Strafjustiz Kleinkram gegen die 5 Euro täglich, die ein auf der Straße lebender Mensch an die Justiz abdrücken muss.
„Die Prohibition ist krachend gescheitert“
Etwa 30 Prozent der männlichen Häftlinge – bei Frauen etwa 50 Prozent – sitzen wegen drogenbezogener Delikte ein. Etwa ein Drittel dieser Gefangenen konsumieren in Haft, von denen nach aktuellen Schätzungen des Robert Koch-Instituts etwa 5–7 % erst in Haft mit dem intravenösen Drogenkonsum beginnen. Die Prohibition ist krachend gescheitert. An keinem Ort wird das so deutlich wie hier. Viele der Konsumenten sind suchtkrank, und viele obendrein mit einer Geschichte geschlagen, die in bürgerlichen Zusammenhang sechs Jahre Psychoanalyse bedeuten könnte.
Auch Gefängnismediziner fordern die Spritzenvergabe. Die zusätzliche Gefährdung sei ein Mythos. Was stimmt, denn gebrauchte Spritzen gibt es ja. Mir jedenfalls wäre eine saubere für einen Übergriff lieber, kann ich als Zyniker da nur sagen, der weiß, dass es in den vor vielen Jahren durchgeführten Modellprojekten nicht zu Problemen kam. Und wenn man schon keinen Paradigmenwechsel wagt und die Süchtigen einfach entlässt, dann könnte man ja immer noch einen Druckraum im Knast einrichten.
„Der Vollzugsmitarbeiter darf aber zum Feierabend keinen Joint rauchen“
Es ist schon absurd, dass richtigerweise verlangt wird, Drogenkonsum in Haft sollte, wenn denn schon konsumiert wird, wenigstens unter sterilen Bedingungen stattfinden. Der Vollzugsmitarbeiter, der tagsüber einen gesunden Heroinkonsum gewährleisten soll, darf aber zum Feierabend keinen Joint rauchen. Das gilt natürlich auch für den Gefängnisarzt. Wir sollten sie – und sie uns – als potenzielle Verbündete sehen.
Bernd Aretz