Hoffen auf den anonymen Krankenschein

Vielen chronisch kranken Migranten bleibt in Deutschland die medizinische Behandlung versperrt. Bei der Berliner Tagung „HIV im Fokus“ äußerten Ärzte und Interessenvertreter ihren Unmut über die unhaltbare Situation.

Asylsuchende, Illegalisierte und Drittstaatangehörige ohne Papiere haben vom deutschen Gesundheitssystem nicht viel zu erwarten. Das Problem ist bekannt, die Folgen für Erkrankte und Hilfebedürftige sind fatal. Wenn diese Menschen beispielsweise an HIV oder Krebs erkranken, haben sie nur dann eine Chance auf Behandlung, wenn sie in die Hände engagierter Krankenhausmitarbeiter und niedergelassener Ärzte gelangt – Ärzte, die ihren hippokratischen Eid ernst nehmen, die rechtlichen Vorgaben ignorieren und diesen Patienten dennoch die notwendige Behandlung und Medikation zukommen lassen.

„Wir fühlen uns alleingelassen“

Auf der Berliner Tagung „HIV im Fokus“ mit dem Schwerpunkt „Ein Blick auf alle, die durchs Raster fallen“ machten auf dem Podium und im Saal einige dieser Ärzte und Krankenhausmitarbeiter ihrer Wut und Empörung über die unhaltbare Situation Luft. „Wir fühlen uns alleingelassen und schultern die hohen Behandlungskosten“, sprach Mitorganisator Keikawus Arastéh vom Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum Berlin vielen von ihnen aus der Seele.

Zum Wohl der Patienten im juristischen Graubereich

Doch Ärzte und Krankenhäuser müssen diese Versorgung nicht nur aus der eigenen Tasche finanzieren, die „individuellen und kreativen Lösungen“, wie eine Klinikärztin die rezeptfreie Vergabe beispielsweise von HIV-Medikamente an Nichtversicherte ironisch umschrieb, verstoßen zudem gegen das Arzneimittelgesetz. Zum Wohl ihrer Patienten bewegen sich die Ärzte damit ständig in einem juristischen Graubereich.

Der Hamburger Schwerpunktarzt Thomas Buhk berichtete aus seiner früheren Tätigkeit in der Ambulanz einer Klinik. Er hatte dort einen Patienten ohne Versicherungsschutz durch das System geschleust. Als ihn ein Kollege an die Krankenhausleitung verpfiff, drohte man ihm mit Abmahnung.

Für Buhk war das seinerzeit der Auslöser, gemeinsam mit anderen ein Netzwerk zu gründen, um solche Patienten außerhalb des Krankenhauses versorgen zu können. Die Hamburger Behörden stellten ihnen dafür ganz unbürokratisch nicht nur Räumlichkeiten zur Verfügung, sondern gestatten auch eine Abrechnung über anonyme Krankenscheine. Doch mit dem Amtsantritt von Ronald Schill als Innensenator musste dieses Angebot eingestellt werden.

Was in Hamburg – wenn auch nur für wenige Jahre – möglich war, müsste eigentlich selbstverständlich sein. Denn, wie Heinz-Jochen Zenker von Ärzte der Welt verdeutlichte: Das Grundrecht auf Gesundheitsförderung und -sicherung ist nicht nur in der UN-Menschenrechtskonvention, sondern unter anderem auch in den 2013 überarbeiteten EU-Aufnahmerichtlinien vorgesehen.

Das Grundrecht auf Gesundheit wird verletzt

Allerdings gebe es eine deutliche Diskrepanz zwischen dem, was beispielsweise auf EU-Ebene beschlossen werde, und dem, was die nationalen Regierungen umsetzten. „Die Gesundheit wird als Mittel der Abschottung instrumentalisiert“, so sein Fazit. Auch Buhk kritisierte den Tenor in den politischen Debatten: „Mit Begriffen wie ‚Medizintourismus‘ werden Ängste geschürt, ohne dass dafür konkrete Zahlen vorlägen, die dies belegen könnten.“

Dabei dränge sich aus Public-Health-Warte die Behandlung von HIV-infizierten Asylsuchenden, Flüchtlingen und Illegalisierten geradezu auf, weil dadurch die Weiterverbreitung des Virus wie auch schwere Aidserkrankungen verhindert werden könnten. Nach Buhks Ansicht würde es bereits ausreichen, das Impfschutzgesetz, das unter anderem allen Tuberkulosekranken unabhängig vom Versicherungsstatus eine Behandlung zusichert, entsprechend auszulegen oder zu aktualisieren.

Nichtregierungsorganisationen und Interessenverbände haben seit Jahren wiederholt Konzepte zu einem anonymen Krankenschein vorgelegt. Passiert ist bisher nichts. Weshalb, das hätten die Veranstalter gern mit Politikern und Vertretern von Krankenkassen diskutiert. Doch die scheuten allesamt das Podium – bis auf den niedersächsischen Landtagsabgeordneten Belit Nejat Onay von Bündnis 90/Die Grünen.

Niedersachsen startet Modellprojekt

Der muss auch keine Angst vor unliebsamen Fragen haben, denn seine Fraktion hat dafür gesorgt, dass Niedersachsen zum Vorreiter in Sachen anonymer Krankenschein wird. Ein für drei Jahre angesetzter Modellversuch in Göttingen und Hannover ist gerade in Vorbereitung.

So sehr dieses Projekt zu begrüßen ist, so zeigte sich in der Diskussion doch auch sehr schnell, dass es nur schwerlich auf Landes- oder Bundesebene  übertragbar sein wird. Denn die aus dem Asylbewerberleistungsgesetz resultierenden Kosten müssen von den jeweiligen Kommunen getragen und die Abrechnung muss mit den Kassen verhandelt werden. In Stadtstaaten oder in örtlichen Modellen mag das noch machbar sein, in Flächenstaaten wie etwa Nordrhein-Westfalen wäre es kaum zu organisieren.

Die Lösung könnte ein nationaler Gesundheitsfonds sein, an dem sich gesetzliche und private Krankenversicherungen, die pharmazeutische Industrie und Kommunen gleichermaßen beteiligen. Ein Runder Tisch, von höchster politischer Stelle einberufen, müsste die Details klären – den Willen aller Beteiligten vorausgesetzt.

„Die Zeit des Stillhaltens ist vorbei“

Ohne dauerhaften Druck wird es dazu allerdings nicht kommen, darüber war man sich im Roten Rathaus einig. „Die Zeit des Stillhaltens ist vorbei“, lautete denn auch Keikawus Arastéhs Schlussstatement. Fürs Erste will der Veranstalterkreis den Gesundheitsminister brieflich auffordern, die Gesundheitsversorgung all jener zu klären, „die durchs Raster fallen“. Zum Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongress 2015 in Düsseldorf will man außerdem einen Unterstützerkreis gründen, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Ob das ausreichen wird, um Bewegung in die Sache zu bringen? Man wird sehen.

 

Weitere Informationen:

Vorbericht zu „HIV im Fokus“ auf magazin.hiv und Internetseite zur Veranstaltung

Porträt von Dr. Thomas Buhk auf aidshilfe.de


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