Pillen und die Angst vor HIV – Gedanken zur PrEP-Debatte

In der Debatte um die HIV-PrEP ist ein Aspekt bisher wenig bedacht worden, sagt Ulli Würdemann: die potenziellen Wechselwirkungen zwischen PrEP und Stigma.

Pillen, die vorbeugend vor einer Infektion mit HIV schützen – was lange wie ein schöner Traum klang, scheint längst Wirklichkeit zu werden. In den USA ist eine „Pille zum Schutz vor HIV“ bereits (unter bestimmten Bedingungen) zugelassen, und auch in Europa beginnt die Diskussion darüber, ob die sogenannte PrEP (Prä-Expositions-Prophylaxe, Schutz, bevor es zu einem möglichen Kontakt mit einem Erreger kommt) eine sinnvolle Möglichkeit sein könnte.

Pillen zum Schutz vor einer HIV-Infektion – wenn das schon möglich ist, funktioniert, dann kann man diese Möglichkeit doch niemandem vorenthalten, oder? Also muss ich doch eigentlich auch für die Einführung der PrEP sein, auch bei uns, oder? Ja, muss ich? 
Sollte ich?
 Tatsächlich?

Mir ist bewusst: In einigen Staaten Europas ist die infektiologische Situation, was HIV betrifft, eine andere als die in Deutschland. Schon bei unseren französischen Nachbarn ist die Lage anders:
 Derzeit werden in Frankreich jährlich 6.200 Infektionen mit HIV neu diagnostiziert (bei 65,82 Millionen Einwohnern eine Rate von 94,2 Neudiagnosen pro einer Mio. Einwohner/innen), während die Rate in Deutschland bei 37,14 liegt (ca. 3.000 HIV-Neudiagnosen, 80,78 Mio. Einwohner/innen).
 Klingt zunächst danach, als gäbe es in einigen Staaten eventuell mehr Gründe, über weitere Wege der Prävention und eben auch über PrEP nachzudenken.

Aber es gibt ja auch einige bereits oft geäußerte Argumente genereller Art in der Debatte um die PrEP:

  • Die ethische Dimension: Wie vertretbar ist es zum Beispiel, in „reichen“ Staaten Pillen zur Prävention zu nehmen – wenn in vielen Staaten der Welt noch nicht einmal alle HIV-Positiven und Aidskranken Zugang zu eben den gleichen Pillen haben?
  • Oder die gesundheitspolitische Dimension: Wer soll das alles zahlen? Die Krankenkassen? Oder jeder selbst – Pillen zum Schutz nur für Wohlhabende?
  • Und wie steht es mit den Folgen einer Biomedikalisierung der Prävention?
  • Und die gesundheitsökonomische Dimension: Was kostet es eigentlich, breit für große Bevölkerungskreise jahre-, vielleicht lebenslang die tägliche Einnahme von Medikamenten zu bezahlen, und was kostet es im Vergleich dazu, die vergleichsweise wenigen Menschen mit Neu-Infektionen pro Jahr zu behandeln?

All diese generellen Bedenken sind nicht neu, und schon zahlreiche Gedanken sind zu ihnen publiziert. Ein Aspekt jedoch, so scheint mir, ist in der Debatte bisher wenig beleuchtet worden, und zwar ein Aspekt, bei dem wir als HIV-Positive besonders hellhörig werden und uns ganz genau fragen sollten, ob und wie wir die PrEP unterstützen oder ob wir vielleicht noch einmal genauer nachdenken: Ich meine den möglichen Zusammenhang zwischen PrEP und Stigma.

PrEP und die Krux mit dem Stigma

PrEP, das bedeutet Pillen zum Schutz vor einer HIV-Infektion, eingenommen vorbeugend kontinuierlich oder (wie in Frankreich in einer großen Studie experimentell untersucht) nur jeweils vor und in Zeiten möglicherweise mit einem Infektionsrisiko verbundener Situationen.

Moment, da gibt es doch schon Kondome und einige weitere Wege, um das Risiko einer Infektion mit HIV deutlich zu reduzieren. Und da es ja schon einige Mittel zum Schutz gibt (wie Safer Sex, Safer Use, ggf. auch die PEP – die „Pillen danach“, falls doch ein konkretes Infektionsrisiko bestand), stellt sich die Frage:

1. Brauchen wir, um das Risiko einer HIV-Infektion zu reduzieren, heute tatsächlich neue Wege?

Braucht es neben dem, was bisher schon zum Schutz möglich ist, noch eine weitere, zudem nicht eben unbedenkliche „Alternative“ (in Form von womöglich lebenslanger Einnahme chemotherapeutischer Medikamente, ohne überhaupt krank zu sein)? Doch die Frage könnte noch tiefer gehen. Denn hinter der PrEP steht ja die deklamierte Notwendigkeit, sich schützen zu müssen. Fragen wir also:

2. Muss man/frau sich überhaupt und „noch mehr“ vor einer Infektion mit HIV schützen?

Ja klar doch, mag manche/r denken. Aber – schauen wir einmal genauer hin. Denn – ist die HIV-Infektion heute noch „die große Katastrophe“? Diejenigen von uns, die die 1980er- und 1990er-Jahre erlebt haben, die „decade of death“, die Zeiten der Perspektiv- und Hoffnunglosigkeit, die wissen: Eine HIV-Infektion ist heute anders, sehr anders als „damals“.

Nach Jahren des großen Sterbens und keiner Medikamente, später nach Jahren erst wenig wirksamer, dann sehr effizienter, aber nebenwirkungsreicher Medikamente haben wir längst eine Zeit hochwirksamer Therapien gegen HIV. Hinzu kommt: Menschen mit einer erfolgreichen Therapie ihrer HIV-Infektion sind heute sexuell nicht mehr infektiös.

Dies heißt damit auch: Eine HIV-Infektion ist heute eben nicht mehr „die große Katastrophe“.

Genau dies aber steht letztlich hinter dem der PrEP zugrunde gelegten Gedanken: sich schützen zu müssen, weil eine Infektion mit HIV eines der schlimmsten Dinge sei, die einem im Leben überhaupt passieren könnten, eines der größten vorstellbaren Risiken überhaupt. Fragt sich also:

3. Ist eine Infektion mit HIV wirklich „der worst case“?

Klare Antwort, siehe oben: nein. Längst nicht mehr. Eine HIV-Infektion ist heute eine chronische Infektionskrankheit, die mit gut verträglichen Medikamenten erfolgreich behandelt werden kann. Menschen, die sich heute mit HIV infizieren, haben eine gleich hohe Lebenserwartung wie Menschen, die nicht mit HIV infiziert sind. Eine HIV-Infektion ist längst nicht mehr der „größte anzunehmende Unfall“.

Oder steckt hinter dem Gedanken, eine HIV-Infektion sei „das Schlimmste, was einem Menschen geschehen kann“, vielleicht eher etwas ganz anderes? Wird damit nicht – im „Nebenbei“ eines sicherlich einträglichen Geschäfts des Verkaufs von Medikamenten an Gesunde – eher ein zentrales Bild aus Zeiten des „alten Aids“ weitertransportiert?

4. Transportiert das hinter dem deklamierten Schutzbedürfnis stehende Bild nicht, es sei weiter notwendig, Angst vor Aids zu haben?

Wenn ich Pillen nehmen soll, ohne überhaupt krank zu sein, benötige ich eine Motivationsstruktur. Hier eben die: eine Infektion mit HIV ist das Schlimmste, was dir im Leben passieren kann. Hab besser Angst davor und tu alles Denkbare, damit das nicht stattfindet!

Füttern wir erneut den alten Dämon Aids?

Ist die hinter der PrEP steckende These, man/frau müsse alles tun (und damit eben auch: als Gesunde/r Pillen nehmen), um sich vor einer Infektion mit HIV zu schützen, nicht letztlich die Aufrechterhaltung, wenn nicht gar das Erneut-in-die-Welt-Schreien der längst veralteten, überholten These: Habe Angst vor Aids und schütze dich um Himmels willen mit allem, was geht, vor HIV?

PrEP als – bewusst oder nicht bewusst, unterschwellig oder nicht – wirksames Vehikel, das alte Angst-Szenario aufrechtzuerhalten?

Der alte Dämon Aids verliert endlich seinen Schrecken – und da füttern wir ihn erneut?

Angst vor Aids – das hieß in den vergangenen Jahrzehnten der Aids-Krise und heißt immer noch, wenn auch unterschwelliger, schnell auch: Angst vor Menschen mit Aids, Angst vor HIV-Positiven. Angst vor Aids ist einer der Motoren von Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV.

Was die Frage aufwirft: Bestärkt dieses – hinter der PrEP steckende – Bild „HIV ist das Schlimmste, was dir passieren kann, schütz dich bloß!“ damit nicht letztlich eher das, was im Kern des HIV-Stigma-Mechanismus steckt?
Und ist somit Baustein einer Struktur, die letztlich Teil des Instrumentariums unserer eigenen Stigmatisierung ist?

Heißt eine der Kern-Fragen damit vielleicht:

Prep und Stigma: Werden wir mit einer Tradierung des Angst-Szenarios hinter der PrEP also nicht letztlich zu Komplizen unserer eigenen Stigmatisierung ?

Deswegen als These, zur Diskussion gestellt, der Versuch einer gelasseneren Position: Wir haben in Deutschland und Europa einen Kanon an Mitteln der HIV-Prävention, die sich als wirkungsvoll und kosteneffizient erwiesen haben. Und wir haben vergleichsweise moderate bis niedrige Zahlen an Neuinfektionen mit HIV.

Wenn doch eine HIV-Infektion stattfindet: Wer sich heute mit HIV infiziert, hat eine „normale“ Lebenserwartung. Es gibt sehr gut wirksame, recht nebenwirkungsarme und zudem mit der zunehmenden Verfügbarkeit generischer Versionen auch kostengünstigere Medikamente.

HIV ist heute kein Drama mehr.
 Und damit auch: Vor HIV muss man/frau keine Angst im Sinne der „größten Katastrophe“ mehr haben. Ein gelassener(er) Umgang mit HIV wäre also angebracht …

Dem Angst-Szenario, einem der Motoren des Stigmas, könnte heute der Boden entzogen werden, statt ihn neu zu verstärken. Brauchen wir da zusätzlich zu den bestehenden und gut wirksamen Präventionsmitteln tatsächlich auch Pillen zum Schutz vor HIV? Brauchen wir hier wirklich die PrEP?

Dieser Beitrag erschien im Juni 2014 auf 2mecs.de. Wir danken Ulli Würdemann herzlich für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Da er bis Ende September 2014 im Urlaub ist, kann er bis dahin möglicherweise nicht auf Kommentare antworten.

 

Bisher in dieser Reihe erschienen:


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