Präser, Pillen, Lust und Stigma – Schwule und die HIV-PrEP

Über die HIV-PrEP wird unter schwulen Männern zum Teil hoch emotional diskutiert. Es geht dabei auch um sexuellen Genuss, Sex mit und ohne Kondom, Moral – und Stigma.

Schon 2011 empfahl die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC Schwulen und anderen Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), die HIV-PrEP. Im Juli 2014 schloss sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an: MSM sollten über die HIV-PrEP als zusätzliche Präventions-Möglichkeit nachdenken.

Hintergrund sind die hohen Infektionsraten bei Schwulen und anderen MSM. Zwar bieten Kondome einen wirksamen Schutz vor HIV-Übertragungen, und wir wissen, dass viele Schwule konsequent Kondome verwenden. Aber wir wissen auch, dass vielen das nicht immer gelingt – und dass manche das nicht können oder wollen (siehe z. B. hier, S. 80 ff.).

Da sollte eine Ergänzung des Präventions-„Werkzeugkastens“ willkommen sein, möchte man meinen. Doch viele sind skeptisch, einige auch völlig gegen die PrEP. Der Ton ist nicht immer sachlich, und es mangelt nicht an persönlichen Angriffen. Das deutet darauf hin, dass es nicht nur um die rationalen Aspekte geht, sondern um mehr: um das Tabu „schwuler kondomloser Sex“ und um die schwule Lust.

Sex genießen – ohne Angst, Schuld- und Schamgefühle

Intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat sich Len Tooley, ein junger HIV-negativer schwuler Mann, der in Toronto HIV-Prävention betreibt. Er hat sich dafür entschieden, die PrEP zu nehmen. „Ich weiß, dass bei einer HIV-Infektion heute nicht mehr die Welt zusammenbrechen muss“, sagte er 2013 in einem Interview. „Aber ich weiß auch, dass es wahrscheinlich einfacher und insgesamt besser für meinen Körper ist, HIV-negativ zu bleiben.“ Ein wichtiges Argument für ihn ist die hohe Zahl HIV-infizierter schwuler Männer in Toronto – beim „Sex in einer Epidemie“ habe er nun mal ein erhöhtes Ansteckungsrisiko. Er meint damit das sogenannte „kumulative Risiko“: statistisch im Einzelfall sehr geringe Risiken „addieren“ sich mit der Zeit, wenn man sie häufig eingeht.

Kondome, so gibt der „HIV-Profi“ Tooley freimütig zu, hat er nicht immer konsequent verwendet. Sie seien eben „keine unsichtbare Barriere“, sondern wirkten sich auf die Qualität des Sexlebens aus. Und nach Risikosituationen habe er sich immer große Sorgen gemacht, Schuld und Scham gefühlt. Die PrEP biete ihm nun zusätzlichen Schutz und nehme ihm die vorher ständig präsente Furcht vor HIV. Außerdem sieht er seine PrEP auch als Beitrag dazu, die häufig vorhandene Angst HIV-Positiver vor einer Ansteckung ihrer Partner zu reduzieren und es Positiven zu erleichtern, ihren HIV-Status offenzulegen.

Die Entängstigung ist auch für den PrEP-Nutzer Damon Jacobs sehr wichtig, einen schwulen Therapeuten, der bei der Suche nach Probanden für einen Impfstoffversuch mit vielen schwulen Männern über HIV gesprochen hat. Jahrelang sei die Alternative „Kondome oder Tod“ gewesen, und die Angst vor HIV und Aids habe zu Depressionen, Suiziden, Drogenproblemen und zum Hass auf Homosexuelle geführt. Durch die HIV-PrEP wanke dieses Glaubenssystem jetzt, und man müsse den Faktoren sexuelle Zufriedenheit und Genuss ihr Recht zurückgeben – für manche sei zum Beispiel das Aufnehmen von Sperma sehr wichtig. Jacobs zumindest zieht folgenden Schluss: Wir müssen die Nachricht verbreiten, dass die PrEP schützen kann, weil viele das noch gar nicht wissen und wir ihnen sonst eine Schutzmöglichkeit vorenthalten.

„Kondome waren eine Notmaßnahme, aber nie auf Dauer angelegt“

Ähnlich sieht das Michael Bouldin, Jahrgang 1970 und HIV-positiv. „Hätte es vor zehn Jahren die PrEP gegeben, hätte ich mich nicht infiziert“, sagt er. Auch für ihn ist der sexuelle Genuss sehr wichtig. In einem Beitrag vom Mai 2014 erinnert er sich an Sexpartys in New York, bei denen sich Sex für ihn endlich natürlich und richtig angefühlt habe. Er sei zwar mit Safer Sex aufgewachsen, habe sich dann aber irgendwann bewusst für das Weglassen des Kondoms entschieden. Seine Angst vor Aids sei danach beschädigt gewesen – durch etwas viel Stärkeres: die Lust am männlichen Körper. Und schon bald sei auch die nächste „Verteidigungslinie“ gefallen: Er ließ einen Partner in sich ejakulieren, weil er Genuss, Intimität und Nähe wollte.

Für Aids-Veteranen wie Larry Kramer, Mitbegründer von Gay Men’s Health Crisis (GMHC) und von ACT UP, grenzt das offenbar beinahe an „Verrat“ – an einer Generation, die Freunde, Partner, Kollegen und Liebhaber an Aids verlor, die für schwule Rechte gekämpft und Prävention auf die Beine gestellt hat. In einem Interview mit der New York Times jedenfalls sagte er: „Für mich ist es irgendwie feige, Truvada zu nehmen, statt ein Kondom zu benutzen. Du nimmst ein Medikament, das Gift für dich ist, und das reduziert deine Energie fürs Kämpfen, fürs Sich-Einmischen, dafür, irgendetwas zu tun.“

„Endlich wird wieder über schwule Sexualität gesprochen“

Bouldin hingegen verweist darauf, dass der Gebrauch des Schwangerschafts-Verhütungsmittels Kondom eine von schwulen Männern selbstbestimmt eingeführte Notmaßnahme und nicht auf Dauer angelegt gewesen sei. Eine Zeitlang habe dies auch funktioniert und so wahrscheinlich die Schwulen vor der Ausrottung bewahrt. Aber für ihn habe Kondomsex immer nach Tod gerochen, auch wenn es lange tabu gewesen sei, sie nicht zu benutzen. Heute, so Bouldin, müssten wir mit der gleichen Selbstbestimmung agieren wie damals, sollten uns dabei aber nicht mehr von der Angst leiten lassen. Denn Angst bringe weitere Deformationen mit sich: Misstrauen, Zweifel, Scham, Wut, Zurückweisung, Hass. Die Angst vor HIV sei geringer geworden – die Rückkehr des „natürlichen“ (kondomlosen) schwulen Sex könne sie nicht mehr aufhalten, wohl aber die Diskussion darüber in den Untergrund drängen, wo Prävention nicht mehr hingelange.

Prävention ist auch das Anliegen des deutschen HIV-Aktivisten Nicholas Feustel, der die PrEP als weitere Option neben Kondomen sieht und sich dafür einsetzt, dass die Gesundheitssysteme sie zur Verfügung stellen (er wird sich mit einem eigenen Beitrag in unsere Debatte einbringen). Hauptzielgruppe der PrEP seien Menschen, die beim Sex keine oder nicht immer Kondome verwenden, zum Beispiel, weil sie sonst die Erektion verlieren (oder gar nicht erst bekommen) oder weil sie ihrem Partner ganz nah sein wollen. Der Grund sei letztendlich aber egal und solle nicht moralisch bewertet, sondern müsse akzeptiert werden, so Feustel. Diese Menschen erreiche man nicht mit der Kondombotschaft, wohl aber mit der PrEP – und wer mit Kondomen gut klarkomme, solle dabei bleiben. Das häufig verinnerlichte Stigma Wer keine Kondome nimmt, ist „böse“ oder „versagt“ könne sich aber auflösen, weil man mit der PrEP auf andere Weise für sich sorgen könne als mit Kondomen.

Truvada und Kondome, Nebenwirkungen und Kosten

Wie sieht es mit den schon angesprochenen (potenziellen) Nebenwirkungen von Truvada aus, insbesondere der langfristig möglichen Einschränkung der Nierenfunktion? „Es ist für mich wahrscheinlich besser, so lange Truvada zu nehmen, wie ich für mich ein HIV-Risiko sehe, als mich zu infizieren und den Rest meines Lebens Medikamente nehmen zu müssen“, sagt Len Tooley. Nicholas Feustel verweist darauf, dass man die PrEP bei Nebenwirkungen wieder absetzen könne, was bei einer antiretroviralen Behandlung nach einer Ansteckung nicht möglich sei. Und außerdem hätten auch Kondome Nebenwirkungen: Angst, schlechtes Gewissen und die Einschränkung des sexuellen Genusses.

Den häufig gehörten Einwand, dass Kondome auch vor anderen sexuell übertragbaren Infektionen (STIs) schütze, die PrEP aber nicht, lässt er nicht gelten: Kondome schützten nur zum Teil vor anderen STIs als HIV, und außerdem gingen PrEP-Nutzer alle drei Monate zum Arzt und würden auf HIV sowie STIs untersucht – das könne die Infektionsraten sogar senken. Die PrEP schütze außerdem auch dann vor HIV, wenn der Verstand vielleicht nicht so klar arbeite (zum Beispiel aufgrund von Hormonen, Endorphinen, Alkohol oder anderer Drogen), während der Kondomgebrauch dann oft schwierig sei.

Und wer soll die PrEP bezahlen? Diese Frage stellen nicht nur diejenigen, die den PrEP-Befürworten vorwerfen, sie wollten auf Kosten der Allgemeinheit ohne Kondom Sex haben. In Len Tooleys Fall übernimmt die Versicherung die Kosten von gut 800 Dollar im Monat. Es sei nun einmal das Prinzip der Solidargemeinschaft, dass man Medikamente, die man brauche, auch bekomme, meint der Tooley. Andere nähmen Medikamente, um Komplikationen bei Arteriosklerose, die Folgen hoher Cholesterinwerte oder hohen Blutdrucks oder um Sodbrennen zu vermeiden – die Vermeidung einer HIV-Infektion unterscheide sich für ihn nicht allzu sehr davon. Außerdem sei es letztendlich günstiger für alle, wenn er HIV-negativ bleibe – bei einer Infektion müsse er schließlich noch mindestens ein weiteres Medikament nehmen.

Löst die PrEP das HIV-Stigma auf – oder fördert sie es gar?

Der Blogger Rich Juzwiak, selbst ein PrEP-Nutzer, sieht nicht nur die unmittelbare Schutzwirkung der PrEP, sondern auch einen positiven Einfluss auf die Prävention: Sie führe dazu, dass endlich wieder über (schwule) Sexualität gesprochen werde. Außerdem entstigmatisiere Truvada, indem die PrEP HIV-Negativen so etwas wie die HIV-Erfahrung nahebringe, aber ohne HIV – der kulturelle Graben zwischen Positiven und Negativen werde zugeschüttet.

Anders sieht das der HIV-Aktivist Ulli Würdemann. Er fragt, ob nicht mit der PrEP ein zentrales Bild des „alten Aids“ weitertransportiert wird und damit das HIV-Stigma verstetigt: „Wenn ich Pillen nehmen soll, ohne überhaupt krank zu sein, benötige ich eine Motivationsstruktur. Hier eben die: eine Infektion mit HIV ist das Schlimmste, was dir im Leben passieren kann. Hab besser Angst davor und tu alles Denkbare, damit das nicht stattfindet.“

Würdemann stellt Fragen. Andere polarisieren – und stigmatisieren ihrerseits mit starken Worten. Berühmt-berüchtigt wurde der Begriff „Truvada Whores“ (Truvada-Huren), auch wenn sich sein Urheber, der HIV-positive Aktivist und Autor David Duran, später von dieser Bezeichnung distanzierte. Der Vorwurf dahinter: Wer die PrEP macht, will einfach nur ungezügelten Sex ohne Gummi haben. (Was viele PrEP-Nutzer auch gar nicht bestreiten – und sich die Bezeichnung „Truvada Whore“ selbstbewusst aneignen. Ihr Argument: Wir übernehmen Verantwortung für unseren Schutz – mehr als jemand, der vielleicht Kondome benutzen will, das aber nicht immer schafft.)

Für Empörung sorgte auch Michael Weinstein, Gründer und Chef der weltweit größten Aids-NGO AIDS Healthcare Foundation, der Truvada als „Partydroge“ bezeichnete. Weinstein wendet sich gegen die Propagierung der PrEP als Maßnahme der öffentlichen Gesundheit – dass sie im Einzelfall wirkt, wenn sie konsequent eingenommen wird, bezweifelt auch er nicht. Seine Kritik gilt vor allem den seiner Meinung nach schöngerechneten Angaben zur Schutzwirkung, die nur in Studien mit hoch Motivierten zu erreichen seien. Im Alltag werde die Therapietreue nicht gelingen, ist der AHF-Präsident überzeugt. Außerdem sieht er die Gefahr, dass schwule Männer wegen der PrEP auf Kondome verzichten und dadurch auf lange Sicht die Zahl der Infektionen mit HIV und anderen sexuell übertragbaren Erregern steigen.

Sachliche Debatte statt Verurteilungen

Auch hier läuft es also wieder auf das Kondom hinaus – und auf das Tabu kondomloser schwuler Sex. Und unter diesem Aspekt wundert man sich nicht über die heftigen Wortwechsel und den oft moralisierenden Unterton: Ähnliches war bei der Einführung der Anti-Baby-Pille ebenso zu beobachten wie bei dem lange andauernden Widerstand gegen die Botschaft, dass eine gut funktionierende HIV-Therapie zuverlässig vor einer HIV-Übertragung beim Sex ohne Kondom schützt.

Greg Mitchell hat dies auf thegayuk.com so zusammengefasst: „Ich glaube, der Widerstand gegen die PrEP lässt sich im Kern darauf zurückführen, dass wir uns für unsere Lust am kondomlosen Sex schämen.“ Dabei seien viele Gegner der PrEP-Einführung offenbar der irrigen Meinung, dass schwule Männer, die positiv auf HIV getestet werden, die „schmutzigen Schwulen“ sind, die am Wochenende auf Sexpartys gehen und Drogen nehmen (und die Infektion daher irgendwie auch „verdienen“, schwingt da mit). Die „guten Schwulen“ dagegen seien heute offenbar diejenigen, die der heterosexuellen Norm entsprechen, den Mann ihrer Träume treffen und dann monogam leben. „Aber auch viele dieser ‚guten Schwulen‘ bekommen positive Testergebnisse“, so Mitchell. „Also sollten wir vielleicht alle damit aufhören, andere zu verurteilen – und einfach den medizinischen Fortschritt begrüßen, der uns die PrEP gebracht hat.“

Ein gutes Schlusswort, finde ich – und zugleich eine Einladung zur weiteren Debatte, die wir sachlich und in gegenseitigem Respekt führen sollten.

 

Bisher in dieser Reihe erschienen:


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