Ja, ich bin beeindruckt.
Beeindruckt und positiv überrascht.
Positiv überrascht von dem effizienten Management der Deutschen Bahn, die ja in der letzten Zeit eine Menge Kritik einstecken musste… positiv überrascht auch von der erstaunlichen Disziplin der meisten Reisenden. Das befürchtete Chaos ist ausgeblieben.
Nicht beeindruckt bin ich von der Kaltschnäuzigkeit derer, die das Chaos verursacht haben. Lokführer mag der Traumberuf vieler kleiner Jungs sein und wir alle wissen, dass man damit nicht reich werden kann und dass die Arbeitsbedingungen vermutlich nicht viel besser sind als die von unseren Pflegekräften die übrigens, deren Gehalt übrigens, nebenbei gesagt, ziemlich bescheiden ist. Aber fangen wir vorne an:
Freitag Nachmittag. Nach einem ganz normalen Arbeitstag finde ich mich am Bahnhof Bad Dingenskirchen ein. Der Regionalexpress ist pünktlich. Ich nippe an dem Plastikbecherkaffee, den ich mir beim Bahnhofsbäcker geholt habe, schaue mir im Internet die neuesten Nachrichten an und…. falle fast in Ohnmacht.
Sie streiken also doch. Das ganze Wochenende lang. Aber erst ab Mitternacht, bleiben also noch sechs Stunden Zeit.
Beim Umsteigen in Sankt Anderswo habe ich genau fünf Minuten Zeit, um mich zu entscheiden: das lange geplante Wochende in Ganzweitwegstadt kurzfristig in den Wind zu schießen – also die bereits gezahlten Kosten für Bahnfahrt, Hotel und den teuren Fortbildungskurs einfach abzuschreiben – oder es halt doch drauf ankommen zu lassen. Die Hinfahrt dürfte kein Problem sein. Aber werde ich am Montag um acht wieder im Krankenhaus auf der Matte stehen können? Weil, wenn nicht, dann…. dann ganz großer Mist!
Ein Typ pöbelt eine blaurotbemützte Bahnangestellte an:
“Ey, wie soll ich jetzt am Sonntag wieder heimkommen?”
Sie reagiert erstaunlich professionell und erklärt ihm freundlich, dass sei es auch nicht weiß und heute Abend nach Ende ihrer Schicht selbst irgendwo gestrandet sein wird.
Mein Zug kommt und ich steige ein. Begebe mich in den Speisewagen.
“Ein großes Bier für den Herrn?” fragt der Kellner.
“Wenn Sie in der Gewerkschaft sind, dann geben Sie jetzt einen aus!” sagt irgendjemand hinter mir und ernted wiehernden Beifall.
Ein anderer Typ telefoniert mit einem Hotel, weil er das bereits stornierte Zimmer nun doch in Anspruch nehmen will. Er hat bereits heute mit Streik gerechnet. Eine junge Frau schaut mich mit Dackelblick an und borgt sich mein Handy-Ladegerät aus, dann kann sie ihrem Freund hocherfreut mitteilen, dass sie doch kommen wird.
Der Rest der Hinfahrt verläuft unspektakulär, den Samstag verbringe ich mit Zittern und Bangen und am Sonntag…. am Sonntag Nachmittag wird es dann ernst.
Mit düsteren Vorahnungen schleiche ich zum Bahnhof. Was erwartet mich da?
Blinkende Anzeigetafeln: “Zug fällt aus!” – “Bitte Ansagen beachten!” – “Informieren Sie sich auf unserer Webseite!”
Aber die Informationen auf der Webseite haben eher begrenzten Wert. Nach viel Herumklickerei erfährt man, dass es einen Ersatzfahrplan gibt, aber ob und wann welcher Zug jetzt genau wohin fährt, das kriegt man nur mit großer Mühe heraus. Die Dame am Informationsschalter hat ihre Tricks und drückt mir ein dreiseitiges Elaborat in die Hände. Die Quintessenz: Ja, ich komme heute nach Hause. Aber ich muss zweimal umsteigen und habe jeweils anderthalb Stunden Aufenthalt dazwischen. Aber gerne erklärt sie sich bereit, für mich herauszufinden, ob ich auch vielleicht mit Umweg über Sankt Sowienoch, dann müsste ich allerdings dreimal Umsteigen und…. nein danke, sage ich kleinlaut mit Blick auf die inzwischen eindrucksvoll lange Schlange hinter mir, ich komme schon zurecht.
Mein eigentlich geplanter Zug ist natürlich storniert worden und ich kann jetzt erstmal ein Stündchen Kaffee trinken gehen.
Der Ersatzzug ist zwar voll, aber nicht überfüllt und mit etwas Sucherei finde ich einen Sitzplatz. Die nächsten Stunden verlaufen unspektakulär, abgesehen davon dass wir einen kleinen Umweg über die Walachei nehmen, aber das hat eher etwas mit Bauarbeiten zu tun und nicht mit dem Streik.
Ja, und dann heißt es Umsteigen.
Ob ich meinen Anschlusszug erwischen werde? Anderthalb Stunden Aufenthalt habe ich, und ob der Zug wirklich fährt, konnte der Schaffner mir nicht sagen. Im Internet war der Zug mit einem gelben Punkt hinterlegt, was bedeutet, dass es keine Informationen gibt…
Mit schlimmer Vorahnung steige ich aus. Am Bahnsteig ist die Hölle los. Obwohl… an anderen Sonntagnachmittagen sieht es hier nicht anders aus.
Mein Blick fällt auf die Anzeigetafel. Neunzig Minuten Verspätung!
Das Herz rutscht mir in die Hose, obwohl….. das war ja der vorherige Zug. Die Leute, die hier so genervt herumstehen, die warten schon seit eineinhalb Stunden. Was nun für mich bedeutet…. dass schon wenige Minuten später ein Zug herangeschraddelt kommt.
Drinnen geht’s zu wie in einem Truppentransporter. Ich stolpere über in den Gängen sitzende Körper und Gepäck und kämpfe mich durch zum Speisewagen, wo ich ein ruhiges Plätzchen und ein großes Bier ergattern kann.
Der Schaffner verteilt Stempel für Verspätungsanträge. Die Formulare sind leider schon ausgegangen. Macht nichts, sagt die Frau neben mir, ich freue mich doch über die Verspätung, so konnte ich anderthalb Stunden in der Sonne spazieren gehen! Und überhaupt – ist es nicht eine enorme Leistung, dass die Bahn diesen Not-Fahrplan auf die Beine gestellt hat? Das sollte man doch honorieren und nicht glcich alles abkassieren, was man mitnehmen kann!
Ich trinke mein Bier aus und mache mich bereit fürs Nächste Umsteigen.
Wenn Sie anderthalb Stunden Aufenthalt haben, dann haben Sie ja Zeit genug, um sich das Erstattungsformular zu besorgen, gibt mir die Dame noch mit auf den Weg.
Ich steige aus.
Vor dem Informationsschalter ist eine lange Schlange. Ein junger Mann – gepflegtes Äußeres, Nickelbrille, politisch korrekte Outdoorjacke – diskutiert mit den Sicherheitsleuten. Das ist doch eine Unverschämtheit, eine Sauerei, das darf man sich doch nicht bieten lassen…
Ich bin der falsche Ansprechpartner, sagt der Sicherheitsmensch und schickt ihn freundlich, aber bestimmt zum Ende der Schlange.
Ich gehe in die Stadt und gönne mir ein Bierchen in einem netten Straßencafe. Im Fernseher laufen die Nachrichten: Bilder vom Streik. Ein Gewerkschaftsmensch bittet um Verständnis. So ein Idiot!
Als ich wieder am Bahnhof zurück bin, steht der Regionalexpress nach Bad Dingenskirchen schon bereit. Jetzt habe ich gewonnen! Mit zweieinhalb Stunden Verspätung erreiche ich das heimische Sofa.
Wie gesagt: Respekt habe ich vor den Bahn-Mitarbeitern, die unter hohem Druck hochprofessionell ihren Job getan haben – und vor der entspannten Einstellung meiner Mitreisenden.