Interview mit Dr. Rainer Hess – über lange Spieße, Insellösungen und dunkle Orte

vlnr.: Konrad Fenderich, Dr. Rainer Hess, Dr. David Matusiewicz

vlnr.: Konrad Fenderich, Dr. Rainer Hess, Dr. David Matusiewicz

Inmitten der Kölner Innenstadt in einem recht unscheinbaren Bürokomplex, gelangt man, nachdem man im vierten Stock durch eine dicke Tür und an zwei Empfangsdamen vorbei geht, in ein Büro voller Rechtsschriften im Gesundheitswesen. Darin arbeitet ein Mann, der in den letzten Jahrzehnten das deutsche Gesundheitswesen maßgeblich mitgestaltet hat: Dr. jur. Rainer Hess war, neben anderen Funktionen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und ist insbesondere durch sein Amt als Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) bekannt, dem wichtigsten Entscheidungsgremium im Gesundheitswesen in Deutschland.
Konrad Fenderich und Dr. David Matusiewicz vom Young Lions Gesundheitsparlament führten mit ihm ein Interview.

Konrad Fenderich: Lieber Herr Dr. Hess, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns „junge Löwen“ im Gesundheitswesen genommen und sich bereit erklärt haben, mit uns über aktuelle Entwicklungen im Gesundheitswesen zu sprechen.
Rainer Hess: Das tue ich gerne. Der Dialog mit jungen Menschen und der zukünftigen Generation von Entscheidern im Gesundheitswesen ist mir wichtig. Ich pflege regelmäßig Kontakt zu jungen und alten Menschen, um mir so Eindrücke zu verschaffen und andere Denkweisen zu reflektieren.

David Matusiewicz: Lieber Herr Hess, uns interessieren insbesondere Ihre Erfahrungen aus dem Gemeinsamen Bundesausschuss. Die Ärztezeitung hat mal geschrieben, dass Sie einen sehr langen Atem während der Amtszeit als G-BA-Chef haben mussten – aufgrund der heterogenen Interessen, mit denen Sie konfrontiert waren. Können Sie uns dazu mehr erzählen?
Rainer Hess: Gerne. Politik lebt von Kontroverse. In der Tat treffen gerade im Gesundheitswesen viele unterschiedliche Akteure und somit unterschiedliche Interessen zusammen. Meine Funktion im G-BA war es, neutral und objektiv zu bleiben und zu sorgen, dass es keine unterschiedlich langen Spieße bei den Überzeugungsargumenten der Akteure gab. Als Moderator muss man dabei auch eine gewisse Autorität einbringen. Die Kontroverse regt allerdings auch die Diskussion im Gesundheitswesen an. Die Entscheidung in der Politik ist am Ende immer ein Kompromiss. Wichtig dabei ist, dass die verschiedenen Interessen nicht nur kurzfristig, sondern auch auf langer Sicht betrachtet werden.

Konrad Fenderich: Das macht Sinn. Wie schätzen Sie dabei die Rolle des G-BA zukünftig ein? Die Bedeutung des G-BA hat ja in den letzten Jahren seit der Errichtung im Jahr 2014 stetig zugenommen.
Rainer Hess: Das stimmt und das wird in Zukunft sicher auch so sein. Am G-BA kommt heute keiner mehr vorbei. Dies liegt auch daran, dass hier Entscheidungen transparent, öffentlich und unter Anhörung von allen Akteuren im Gesundheitswesen, auch Patientenvertretern getroffen werden. Wichtige Entscheidungen werden somit nicht an „dunklen Orten“ getroffen. Der G-BA bietet eine Struktur an, in der die Demokratie definitiv berücksichtigt wird. Dies hat sich in den letzten Jahren bewährt und einen echten Mehrwert geschaffen. Keine Absprachen in dunklen Ecken – alles läuft in einer öffentlichen Sitzung ab.

David Matusiewicz: Sehen Sie den G-BA eher als verlängerter Arm des Staates oder als ein Teil der gemeinsamen Selbstverwaltung als mittelbare Staatsverwaltung?
Rainer Hess: Aus Sicht der Kammern gehört der G-BA eher zum Staat. Aus meiner Sicht ist dieser Teil der Selbstverwaltung.

Konrad Fenderich: Ist denn die Betrachtung einzelner Sektoren oder Akteursgruppen bei der Behandlung eines einzelnen Patienten überhaupt sinnvoll? Braucht es nicht einen ganzheitlichen Ansatz?
Rainer Hess: Das ist korrekt. Die Behandlung sollte sektorenübergreifend betrachtet werden. Wir sollten also nicht nur die Ärzte, die Zahnärzte und die Krankenhäuser und deren singuläre Interessen betrachten. Es muss das Konzept zur sektorenübergreifende Versorgung weiter ausgebaut werden.

David Matusiewicz: Kann dabei die Steuerung im Gesundheitswesen über den Preis der richtige Weg sein? So wie es prominent mit der Praxisgebühr praktiziert wurde…
Rainer Hess: Ich halte eine Mindestbeteiligung, zum Beispiel über Zuzahlungen für ein gutes Instrument, um ein Preisbewusstsein bei Versicherten beziehungsweise Patienten zu fördern. Die Praxisgebühr war vom Grundsatz her eine gute Überlegung, jedoch zeigten sich in der Praxis zahlreiche Herausforderungen, wie das Horten von Facharzt-Überweisungen nach Bezahlung der Praxisgebühr und ein hoher Bürokratieaufwand für Ärzte. Das führte schließlich dazu, dass die Praxisgebühr wieder abgeschafft wurde.

Konrad Fenderich: Verfolgen Sie ein Ideal von einem Gesundheitssystem? Haben Sie da etwas konkret vor Augen, um das System weiterzuentwickeln?
Rainer Hess: Es gibt kein ideales Gesundheitssystem. Es gilt das Gesundheitssystem so zu gestalten, dass die Bedürfnisse der Menschen in Deutschland bestmöglich abgedeckt werden. Beispiel: In England mit dem nationalen Gesundheitsdienst (NHS) wird keine Diskussion um Zweitbettzimmer geführt, die Menschen sind es gewohnt zu sechst in einem Zimmer zu liegen. Sie kennen es einfach nicht anders. Das deutsche Gesundheitssystem liegt zwischen der Steuerung durch den Staat und dem reinen marktwirtschaftlichen Wettbewerb, der auch negative Effekte wie Risikoselektion um gute Risiken nach sich zieht. Unser System vereint viele Elemente und das macht es manchmal so heterogen. In Deutschland herrscht immer eine Politik der kleinen Schritte. Man muss zwar eine Vision vor Augen haben, aber sukzessive Schritt für Schritt diese zielgerichtet mit der dafür notwendigen Zeit ansteuern.

David Matusiewicz: Wie stehen Sie dem Wettbewerb im Gesundheitswesen gegenüber? Prof. Dr. Zweifel forderte beispielsweise in einem Interview zuletzt mehr Privatisierungen und nicht nur im aktuellen „Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ ist von mehr Qualität die Rede.
Rainer Hess: Es gibt für alles Pro und Contra Argumente. Der bisherige Wettbewerb hat nicht unbedingt zur Verbesserung beigetragen, sondern vor allem zur Zersplitterung der Akteure. Zudem können nicht alle Bevölkerungs- beziehungsweise Patientengruppen am Wettbewerb teilnehmen, geschweige denn davon profitieren.

Konrad Fenderich: Woran krankt ihrer Meinung nach das Gesundheitswesen heute?
Rainer Hess: Es gibt zum einen das Problem, dass beispielsweise neue Versorgungsverträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern nicht nach einem wissenschaftlichen Standard evaluiert werden. Modellprojekte wie das „Gesunde Kinzigtal“ sind gut und wichtig, jedoch darf es hier nicht zu Insellösungen kommen, die teilweise sogar die Freizügigkeit von flächendeckenden Behandlungen der Versicherten einschränken würden. Es fehlen harte Daten, wobei sich nicht einmal Prävalenzen von bestimmten Erkrankungen berechnen lassen, da die Routinedaten im Gesundheitswesen nach wie vor sehr zurückhaltend evaluiert werden. Es ist mit dem § 303 eine Grundlage geschaffen worden, um die Forschung mit Routinedaten voranzutreiben, jedoch ist bislang nicht viel passiert.

David Matusiewicz: Ist die Einrichtung eines neuen Instituts für Qualität der richtige Weg? Wir haben doch das BQS, AQUA und IQWIG. Reicht das nicht?
Rainer Hess: Das AQUA und BQS sind privatrechtliche Unternehmen und haben keinen öffentlichen Auftrag mehr. Das IQWIG hat bereits wichtige Kompetenzen im Gesundheitswesen erhalten, aber man möchte hier keine zu große Machtkonzentration, weswegen ein neues Institut mit einem öffentlich-rechtlichen Auftrag geschaffen wird.

Konrad Fenderich: Auf dem Hauptstadtkongress hat Herr Prof. Dr. Gerlach im Forum zur Qualitätsoffensive, dessen Moderator Sie waren, das neue Gutachten des Sachverständigenrats vorgestellt. Wie beurteilen Sie das Problem der Unterversorgung von ländlichen Regionen? Haben Sie eine Lösung für dieses Problem?
Rainer Hess: Es gibt ein paar Ansätze über die man diskutieren kann. Eine Einrichtung von medizinischen Versorgungszentren in diesen Regionen macht sicher Sinn, was gemäß dem Amerikaner Don Berwik „Versorgung aus einer Hand“ bedeutet. Die Menschen brauchen nicht den einen Landarzt, der eine 80-Stunden-Woche hat, sondern ein Team von Ärzten und weiteren medizinischen Berufen, dass sich um die Belange der Versicherten kümmern. Dabei sollten die Kompetenzen der nichtärztlichen Berufe ausgeweitet werden, um den Arzt noch tatkräftiger unterstützen zu können. Die Ausbildung der Fachärzte sollte ebenso von fünf auf drei Jahre verkürzt werden, so wie es in Europa der Standard ist. Es geht nicht immer um mehr Geld. Es geht auch um gute Arbeitsbedingungen, die vorliegen müssen, um die Ärzte in die ländlichen Regionen zu holen. Der medizinisch-technische Fortschritt in der Telemedizin, welcher in Zukunft eine noch bedeutendere Rolle zugeteilt ist, kommt ländliche Regionen ebenfalls zu Gute. Im Gegensatz dazu ist der Aufkauf von Arztpraxen in deutlich überversorgten Gebieten eine Möglichkeit, die sich die Selbstverwaltung eröffnet hat. Dies sollte allerdings wenn überhaupt nur nach strengen Kriterien erfolgen.

David Matusiewicz: Lieber Herr Hess. Vielen Dank für Ihre spannenden Thesen, die wichtige Impulse für unsere Arbeit im Gesundheitsparlament liefern.
Rainer Hess: Ich freue mich auf weitere Ergebnisse aus dem Parlament und stehe für eine weiterführende Diskussion mit den Young Lions gerne zur Verfügung.

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