HIV-Aktivist Ulli Würdemann lässt in seinem sehr persönlichen Beitrag markante Stationen seines Lebens mit HIV Revue passieren und schreibt damit zugleich Aidsgeschichte.
Ich erinnere mich sehr gut an meine erste Begegnung mit Aids. Und ich hoffe, irgendwann in diesem Leben sagen zu können: Ich erinnere mich voller Freude an meine letzte Begegnung mit Aids. Ich hoffe, es zu erleben, dass wir absehbar bei uns einen Schlussstrich ziehen können unter diese Krise, die so unsagbar viel Leid, Zerstörung, Verwüstung, Elend gebracht hat. Aber beginnen wir von vorne.
Vorweg geschickt sei, dass ich mein Schwulsein, schwulen Sex, schwules Leben und schwule Emanzipationsbewegungen in den 1970ern entdeckte, also noch in den Zeiten vor Aids.
1983: ungläubiges Staunen
Meine erste Begegnung mit Aids: Hamburg 1983. Mein Mann und ich kennen uns erst wenige Monate. Zuerst eine kurze Notiz in einem US-Magazin, dann der erste Bericht im SPIEGEL. Eine neue Seuche in den USA, die „nur Homosexuelle befällt“, so bewahrt meine Erinnerung den Eindruck des Gelesenen. „So ‘n Quatsch, Seuche nur bei Schwulen“, denke ich. „Bestimmt haben die sich was ausgedacht oder aufgebauscht.“ Auch bei den weiteren Meldungen überwiegt zunächst das Gefühl, „jetzt haben sie was Neues gefunden, um wieder die Schwulen zu verfolgen“.
Mitte der 80er: Befremden
Kurze Zeit später, Mitte der 80er-Jahre, Köln. Inzwischen hat sich die Situation wie auch ihre Wahrnehmung durch uns geändert. Eine weitere, sehr konkrete Begegnung mit HIV: Ich werde HIV-positiv getestet – nicht nur ohne meine Zustimmung, sondern sogar gegen meine ausdrückliche Ablehnung. Mein Arzt ist in Tränen aufgelöst und schockiert. Ich nicht, ich kenne mein Leben…
„Die Stutenmilch ist mir besonders in Erinnerung geblieben“
Kurze Zeit später gehe ich zur ersten, damals gerade entstandenen Kölner Positivengruppe – und bleibe nicht lange angesichts des Kreisens um ständig neue Heilsbringer-Rezepte (die Stutenmilch ist mir besonders in Erinnerung geblieben) und des nahezu masochistischen Starrens auf sinkende Helferzellzahlen. „Ich bin ja nur positiv“, sage ich mir, „da machst du dich nur selbst krank – lass das.“ Mein kurzes Gastspiel des Befremdens führt für die nächste Zeit zu großer Distanz zu Positivengruppen und Aidshilfen.
Mitte/Ende der 80er: Verdrängung und Verzweiflung
Es folgt eine Phase, in der ich mich um (mein) HIV nur soweit unbedingt nötig kümmere. Regelmäßige Arztbesuche, Vorkehrungen wie Testament, Patientenvollmacht, Absicherung meines Mannes. Ansonsten konzentriere ich mich auf meine berufliche Karriere, engagiere mich weiterhin in der Schwulenbewegung.
In diese Phase der Verdrängung fällt parallel auch eine Zeit tiefer Verzweiflung. Die Zahl der schwarz umrandeten Umschläge, die ich abends nach der Arbeit in unserem Briefkasten finde, steigt an. Ebenso das Gefühl, hilflos zu sein in einem beständig größer werdenden Inferno aus Hoffnungslosigkeit, elendem Krepieren und erneuter Hetze gegen Schwule.
1989–1995: Wut und Tatendrang
Ende der 1980er Jahre. Peter Gauweiler ist zu Besuch in einer Kleinstadt nahe Köln, auf Einladung der örtlichen CDU. Mehrere hundert Schwule und Lesben protestieren, hindern ihn zwar nicht am Reden, doch am Abfahren. Meine erste Festnahme.
„Endlich selbst aktiv werden, aus Lähmung und Hilflosigkeit ausbrechen“
1989/1990 gründe ich mit Freunden und Bekannten aus der Kölner Schwulenszene ACT UP Köln. Endlich selbst aktiv werden, aus Lähmung und Hilflosigkeit ausbrechen. Schweigen = Tod, Wut = Aktion. Aus dem ACT-UP-Aktivismus heraus erwächst später meine Mitarbeit bei der bundesweiten Positivenzeitung „Virulent“ und im gerade entstehenden Therapie-Aktivismus der European AIDS Treatment Group (EATG). Jahrelang arbeite ich, zeitweise als Chairman, im ersten europäischen Community-Board einer klinischen Studie (Immuno CAB) mit. Dieses Board erarbeitet erstmals in Europa Grundlagen der Community-Beteiligung in der klinischen Aidsforschung.
Zugleich ist 1989/90 die Zeit der „Wende“. Eine Wende auch für mich persönlich, wenn auch eine ganz andere. Ich erinnere mich, wie Arbeitskollegen immer wieder stolz von ihren großartigen Erlebnissen in Berlin berichten und wie ich darauf nur abwesend nicke und denke, „wenn ihr wüsstet“. Im Sommer 89 habe ich mich in einen jungen Mann in Paris verliebt. Jean-Philippe ist ebenfalls positiv. Ab Herbst 89 erkrankt er immer wieder, immer schwerer. Candidiasis, AZT-Anämie, PCP, Toxoplasmose, alles was man damals als Aidskranker bekommt.
Immer wieder bin ich in Paris, pflege ihn im Wechsel mit seinem Lover. Einen Geliebten hilflos krepieren sehen –ich komme an die Grenzen dessen, was ich auszuhalten vermag. Irgendwann wird mir bewusst, dass ich hier auch mein eigenes Schicksal vor mir sehe. Am 2. Oktober 1990 stirbt Jean-Philippe in Paris.
1995/96: Absturz
Im Spätsommer 95 verschleppe ich eine Erkältung. Einige Tage Antibiotika, um die Lungenentzündung zu bekämpfen. Doch nach kurzer Zeit ist sie zurück, hartnäckiger als zuvor. Im Bettenturm der Uniklinik fühle ich mich wie eine Nummer, an der Prozeduren vollzogen werden, die ansonsten aber Störfaktor ist in einer auf Funktion und Ökonomie hin optimierten Maschine.
November 95. Zwei Wochen Mallorca, Sonne tanken, bevor der Winter kommt. Der leichte Husten, mit dem ich ins Flugzeug steige, wird eher schlimmer. Ständig dieser Reizhusten. An Ausflüge ist bald nicht mehr zu denken, und ich bin froh, als es zurückgeht. Einen Tag später liege ich im Klösterchen unter Sauerstoff. Die Bronchoskopie am nächsten Tag bestätigt den Verdacht auf PCP. PCP, das heißt auch: Aids. Den ganzen Dezember liege ich auf Station „Rita“, benannt nach der „Heiligen für aussichtslose Fälle“– katholischer Humor? Weihnachten darf ich einige Stunden nach Hause; mein Mann muss mich die wenigen Stufen zur Wohnung hinauf tragen. Mitte Januar haben sie mich wieder soweit aufgepäppelt, dass ich entlassen werde.
„Mein Körper spielt verrückt“
Ende März ist der Husten wieder da. Die Angst verfliegt zunächst bei der Diagnose einer „normalen“ Lungenentzündung, immerhin nicht wieder PCP. Erneut im Klösterchen, wieder auf Station „Rita“. Antibiotika, „das bekommen wir schnell wieder hin“. Denkste. Mein Körper, der sich inzwischen mit einer (neuerdings messbaren) Viruslast von über zwei Millionen Kopien herumschlägt, spielt verrückt. Die ganze Haut juckt, rote Pusteln überall. Bald schwellen Finger und Zehen bedenklich an. Dicke Blasen bilden sich an den Füßen, die Haut löst sich. Aus einem Arzt bei der Visite ist inzwischen ein ganzer Chor geworden. „Lyell-Syndrom“, höre ich sie seufzen.
Mit viel Zeit, noch mehr Kortison und dem Absetzen aller Medikamente bekommen sie die schwere Antibiotika-Allergie langsam zum Abklingen. Kraft habe ich keine mehr, Hoffnung noch weniger. Helferzellen eh nicht mehr. Habe ich mich damals aufgegeben? Die Erinnerung sagt ja.
Im Mai 1996 erklärt der Assistenzarzt meinem Mann und mir, er könne nun wirklich nichts mehr für mich tun. Kortison-Spritzen, um für kurze Zeit noch mal fit zu sein, eine Telefonnummer für den Notfall und der dringende Rat, möglichst bald noch „etwas Schönes“ gemeinsam zu unternehmen.
Ende der 90er bis Anfang der 2000er: schwierige Wiedergeburt
Dank zweier wunderbarer Ärzte und einem neuen Medikament gibt es plötzlich wieder Hoffnung. Hoffnung auf ein Leben mit HIV. Ich bin unerwartet wieder da. Bald beginne ich, wieder aktiv zu werden; zunächst die „HIV-Nachrichten“ und die Veranstaltungsreihe „MedInfo“, später HIVlife.de, in den 2000ern dann ondamaris.de.
Aber der Neubeginn ist schwierig und heißt vor allem: Leben mit Pillen, und das sieht in jenen Tagen noch ganz anders aus als heute. Zeitweise nehme ich an die 30 Pillen pro Tag, gegen HIV, gegen PCP, Antibiotika. Essen ist nur zu ganz bestimmten Zeiten möglich, sodass wir kaum noch mit Freunden essen gehen können: Ich habe schlicht nur wenige, genau einzuhaltende Stunden am Tag, in denen die Pillen mir Zeit zum Essen lassen.
„Meine ‚Therapietreue‘ wird geradezu stalinistisch“
Problematischer ist, dass die Kombi, die ich einnehme, jahrelang jeweils die letzte und einzige ist, die wegen umfassender Resistenzen noch wirkt. Es darf einfach nichts schiefgehen, bloß nicht neue Resistenzen, bloß nicht zurück zum Frühjahr 1996. Meine „Therapietreue“ wird geradezu stalinistisch. Und nachdem zunächst ein einfacher Pillenwecker reicht, folgen bald Armbanduhren, die drei, später fünf Alarme pro Tag beherrschen.
Diverse Nebenwirkungen. Nicht „nur mal“ Schwindel oder Übelkeit, sondern oft nahezu unkontrollierbare Durchfälle, die ein soziales, geschweige denn sexuelles Leben nahezu unmöglich machen. Am schlimmsten sind aber die Fettverteilungsstörungen, was Fettverlust an Armen und Beinen, Fettansammlungen an Bauch und Nacken bis hin zum höchst stigmatisierenden „Totenkopfäffchen-Gesicht“ meint.
Alles andere als einfach erweist es sich, mir selbst wieder Zukunft zu geben. Nach der intensiven Zeit, in der mein Horizont, von Aids erzwungen, auf Monate, dann auf Wochen, schließlich auf Tage geschrumpft ist – da soll ich mir ganz plötzlich wieder über eine Zukunft Gedanken machen?
2010er-Jahre: Entspannung
Seit einigen Jahren haben wir im Leben mit HIV eine Phase der Entspannung. Positive können zwischen leicht einzunehmenden und nebenwirkungsarmen Medikamenten-Kombinationen wählen, die zudem, wenn erfolgreich, zu sexueller Nichtinfektiosiät führen. HIV gilt eher als chronische und behandelbare Infektionskrankheit.
„HIV nimmt einen immer kleiner werdenden Teil meines Daseins ein“
In den vergangenen Jahren hat HIV im Leben vieler Positiver an Bedeutung verloren. HIV dominiert oft nicht mehr den Alltag wie in der ersten Hälfte der 90er und ist auch nicht mehr wichtiger Teil des Alltags wie noch zu Beginn der 2000er-Jahre, sondern nimmt einen immer kleiner werdenden Teil des Daseins ein.
Verglichen mit „damals“ könnte man fast meinen, HIV sei in der „Normalität“ angekommen. Gäbe es da nicht die Kriminalisierung, Diskriminierung und Stigmatisierung HIV-Positiver – der gesellschaftliche Fortschritt scheint viel zaghafter zu sein als der pharmazeutische.
2015: Gelassenheit?!
Fast scheint es, als sei nun eine neue Phase möglich. Man kann sich auf vielfältige, praktikable und wirksame Weise vor einer HIV-Infektion schützen. Und sollte man sich doch infizieren: Es gibt wirksame und gut verträgliche Therapien, bei Wirksamkeit ist man sexuell nicht mehr infektiös, man hat eine normale Lebenserwartung. Wäre es da nicht an der Zeit für mehr Gelassenheit im Umgang mit HIV – in der Gesellschaft, in Aidshilfen, bei Positiven? Ist die HIV-Infektion – und hier ist eine mögliche „Heilung“ noch gar nicht mitgedacht – auf dem besten Weg, ein „hinnehmbares Risiko“ zu werden?
Und in naher Zukunft?
Schöne neue Welt? Wird es bei uns – bis auf wenige Sonderfälle – überhaupt noch Aids geben? Ist die HIV-Infektion dann noch in irgendeiner Weise etwas Besonderes? Oder wird sie, zumindest in den „reichen Industriestaaten“, mit der Heilung gar verschwunden sein?
Wird es dann das „Positiv-Sein“ als medizinische Konstitution oder als persönliche Identität noch geben – oder nur noch schnell zu bedienende Partikularinteressen und Einzelfall-Betreuung für komplexe Problemfälle? Werden wir die HIV-Selbsthilfe noch brauchen – vielleicht nur noch als Veteranenvereinigung für Ex-Positive? Brauchen wir dann noch die Aidshilfe? Brauchen wir noch die Aidshilfe von heute oder vielleicht eine andere? Oder wird so etwas wie eine „Nationale Präventionsstelle“ ausreichen?
Und falls der Zustand erreicht sein sollte, dass eine HIV-Infektion in Deutschland weder medizinisch, politisch noch gesellschaftlich wesentliche Probleme mit sich bringt: Erinnern wir uns dann daran, warum Aidshilfe einst gegründet wurde? Und wird die Aidshilfe dann mutig sagen: Ziel erreicht, belassen wir es stolz dabei, lösen wir uns auf? Oder wird sie nach neuen Existenzberechtigungen suchen?
„Seien wir uns unserer Luxussituation hierzulande bewusst“
Noch ist all das nicht erreicht. Und die Vergangenheit hat gezeigt: Das Leben mit HIV ist wesentlich komplexer, als die seit einigen Jahren gerne verwendeten, jedoch vereinfachenden Metaphern „altes Aids – neues Aids“ dies suggerieren. Hüten wir uns vor zu großen Vereinfachungen ebenso wie vor überschäumendem Optimismus. Und seien wir uns unserer Luxussituation hierzulande bewusst. Unsere Verantwortung bleibt, auch dort zu handeln, wo die HIV-Infektion und Aids weiterhin ein Desaster sind, eine menschliche, gesellschaftliche und politische Katastrophe.
Aber haben wir auch den Mut, Aids zu beenden. Wir können es. Die Aidskrise ist noch nicht vorbei. Aber, wie eingangs gesagt, hoffe ich, ihr Ende noch zu erleben. Und: bald.