Christkindchen

“Na, Herr Doktor, wie geht es mir?”
Frau Waltherscheidt ist eine echte Frohnatur. Sollte ich jemals mein zweiundneunzigstes Lebensjahr erreichen und dann noch so klar im Kopf und vor allem so optimistisch sein wie Frau Waltherscheidt, dann werde ich dem Himmel auf Knien dafür dankbar sein. Sofern ich dann noch in der Lage dazu sein sollte, niederzuknien, denn in den Gelenken, da knirscht es schon ein bisschen bei Frau Waltherscheidt und das eine oder andere Zipperlein hat sie natürlich auch. Aber ihre Lungenentzündung, die hat sie auskuriert, und das war schließlich der Grund, weshalb wir sie in unserem gastlichen Haus aufgenommen haben.
Ich schaue in die Akte.
“Also, Ihre Werte sind deutlich besser geworden!”
“Und, was meinen Sie, Herr Doktor?”
“Morgen früh können Sie heim. Dann sind Sie Weihnachten im Kreis Ihrer Liebsten!”
Frau Waltherscheidt strahlt noch ein bisschen mehr als sonst. Ich verabschiede mich mit festem Händedruck, verlasse das Zimmer und lege die Akte schonmal zur Seite, damit ich den Entlassbrief heute noch fertig machen kann.
Zehn Minuten später geht das Telefon: Anruf von draußen. Dran ist eine Frau Waltherscheidt Junior, auch eine Frohnatur, also eine von der Sorte, die jede Menge Haare auf den Zähnen hat.
“Also, so geht das ja schonmal gar nicht!” sagt sie im Brustton der Überzeugung, “Meine Mutter kann doch morgen nicht nach Hause!”
“Warum nicht?”
“Ja kuckensedochmaherrdoktor, die kann doch noch gar nicht richtig laufen!”
“Äh…. also mit Rollator und ein bisschen Unterstützung eigentlich schon…”
“….ja, aber da tut doch noch alles weh, in den Knien, in den Hüften, im Rücken und so…”
“Das war vor ihrer Lungenentzündung nicht so?”
“Nä, Herr Doktor, also ich meine, vielleicht doch, aber die ist doch noch total geschwächt!”
“Also, mit zweiundneunzig Jahren…”
“Kuckensemalherrdoktor, könnenseda wirklich nichts machen? Ich meine, so ne Kur oder Reha oder so?”
Tja, wenn man sich früher drum gekümmert hätte, dann vielleicht schon….
“Ja, Wissenseherrdoktor, das ist nämlich so, die ist da zu Hause ganz allein….”
Richtig. Frau Waltherscheidt ist bislang in ihrer kleinen Wohnung alleine zurecht gekommen. Einmal in der Woche kommt die Putzfrau und zweimal in der Woche geht die Nachbarin einkaufen. Und jeden Samstag wird Frau Waltherscheidt abgeholt zum Seniorennachmittag im Gemeindehaus. Da gibt es Kaffee und Kuchen und das ist so etwas wie der Höhepunkt in ihrer Woche. Weihnachten würde sie natürlich gerne bei einem ihrer drei Kinder, sieben Enkel und vier Urenkel verbringen.
Und jetzt wird mir klar: alle Kinder, Enkel und Urenkel haben vermutlich einen Skiurlaub geplant. Oder fliegen in die Karibik. Oder zu einem schicken Städtetrip nach Sowienoch. Ist ja nichts Neues. Kennen wir ja.
“…also glaubensenichtherrdoktor, dass meine Mutter über die Feiertage bei Ihnen viel besser aufgehoben wäre?”
Passt schon. Heiligabend kommt der Kinderchor, nachmittags der Posaunenchor und für den frühen Abend hat Schwester Paula eine kleine Feier organisiert. Das kriegen wir schon hin.
Same Procedure as…. alle Jahre wieder!