HIV-positive und HIV-negative Kinder spielen miteinander: Die Kita Nestwärme in Berlin-Kreuzberg ist die einzige in Deutschland, die sich dieses Ziel auf die Fahnen geschrieben hat. Für die Eltern ist das ganz normal – doch der Weg dorthin war kein Kinderspiel.
„Klar“, sagt Andy, „am Anfang haben wir uns auch Gedanken gemacht!“ Der zweifache Vater sitzt in seiner Küche in Berlin-Kreuzberg und rührt in seinem Espresso. Es ist Freitagvormittag, Andys achtjähriger Sohn Linus besucht die Schule, Tochter Paulina ist erst viereinhalb und spielt deshalb noch bei „Nestwärme“ – der einzigen deutschen Kita mit einem Schwerpunkt auf der Integration von HIV-positiven Kindern.
Andys Kinder sind HIV-negativ. Und auch wenn er und seine Frau – eine Ärztin – wissen, dass es in Kindergärten keine Ansteckungsgefahr gibt: Ängste gehorchen leider nicht immer rationalen Überlegungen.
10 Minuten zu Fuß braucht die junge Familie zur Kita. Die Einrichtung liegt nicht direkt an der Straße, sondern im Seitenflügel eines Altbaus. Weil das Vorderhaus fehlt, macht der große Hof den Eindruck eines kleinen Platzes oder Parks. Bäume wachsen hier, dazwischen gibt es Rasen, Sandkästen, Schaukeln und Rutschen.
Ein Spielplatz, nette Erzieher, helle Räume und bunte Wände, die im Sonnenlicht leuchten
Schon von der Straße aus sind laute Kinderstimmen zu hören – lange bevor die Kinder zu sehen sind, die offenbar Fußball spielen. „Schieß!“, ruft erst ein Kind, dann stimmen mehrere andere Jungen und Mädchen mit ein: „Schieß! Schieß!“
Mittendrin spielt Thorsten. Der 39-jährige Erzieher ist der Held der kleinen Fußballmannschaft, und auch nach dem Spiel schwirrt stets eine Traube Kinder um ihn herum. Mit seinem Dreitagebart und den Tattoos, die unter den Hemdsärmeln hervorgucken, passt er gut in diesen Teil Kreuzbergs, der gemeinhin als alternativ und weltoffen gilt und sich selbst auch so empfindet.
Gegründet wurde Nestwärme 1997 nicht in Kreuzberg, sondern im Bezirk Mitte, erzählt Antje Linnstedt, die Kita-Leiterin. Mit nur zwölf Kindern ging es damals los, alle kamen aus von HIV betroffenen Familien. Das Ziel des Vereins war, die Kinder und ihre Familien besser zu integrieren. Zunächst aber gab es nur wenig Austausch mit Nachbarn und mit Familien, die nicht von HIV betroffen waren.
Mittlerweile kommen die meisten Kinder aus Familien, die nicht von HIV betroffen sind
Das änderte sich, als der Kindergarten im Jahr 2001 das erste Mal umzog, nach Kreuzberg, und dort eine Etage in einem Haus übernahm. Der Kontakt mit den neuen Nachbarn war allerdings nicht einfach; viele reagierten verunsichert. „Die Leute hatten Angst, dass sich ihre Kinder mit HIV anstecken könnten“, erinnert sich Linnstedt. Einige Anwohnerinnen und Anwohner sammelten sogar Unterschriften, um die Kita in ihrer Nachbarschaft doch noch zu verhindern. Bereits 2002 zog Nestwärme an den aktuellen Standort. „Der Widerstand in der alten Umgebung war ein Grund“, sagt Linnsted. „Aber wir hatten dort auch kleinere Räume und keinen Spielplatz.“
Mit dem zweiten Umzug erweiterte die Kita ihr Angebot – heute besuchen rund 60 bis 65 Kinder im Alter von eins bis sechs die Einrichtung. Auf allen drei Etagen des Altbaus wuseln Jungen und Mädchen. Die großen Fenster lassen viel Licht herein, das die in hellem Rot, Grün und Gelb bemalten Wände zum Leuchten bringt.
Die meisten Kinder kommen mittlerweile aus Familien, die nicht von HIV betroffen sind. „So etwas haben wir uns eigentlich von Beginn an gewünscht“, sagt Antje Linnstedt. „Wir machen jetzt Integration statt Isolation.“
Die Kinder spielen völlig unbefangen miteinander
Im Alltag wird das deutlich: Wer von den Fußball spielenden Jungs und Mädchen nun HIV-positiv ist, wer negativ, ist nicht erkennbar. Auch die Eltern wissen nur dann von der HIV-Infektion anderer Kinder, wenn deren Eltern sie bekannt machen. Die Kinder selbst spielen völlig unbefangen miteinander. Genau das ist das Ziel der Arbeit von Nestwärme – macht manchen Eltern, die einen Kitaplatz suchen, aber auch Angst: Was, wenn sich Kinder beim Spielen verletzen? Ist es gefährlich, wenn sie aus einem Glas trinken oder beim Zähneputzen die Zahnbürste eines anderen Kindes benutzen?
Auch Andy kennt diese Sorgen. Zum Beispiel die, dass sein Sohn, der vor seiner Einschulung ebenfalls Nestwärme besucht hatte, mit einem HIV-positiven Freund Blutsbrüderschaft schließen könnte. „Das war eine Angst, eine Fantasie, die mal kurz aufgepoppt ist“, erzählt er. In Andys Freundeskreis führte die Entscheidung, Linus zu Nestwärme schicken, zu Diskussionen: „Ein Kumpel war richtig erschrocken und meinte, er hätte Angst, dass seiner Tochter etwas passiert.“
Elternabende: Ärzte und Aidshilfe-Vertreter klären über HIV auf
Im Umgang mit solchen Ängsten setzt Nestwärme auf eine alte Strategie: Informationen und Gespräche. Der Verein organsiert Elternabende, Infonachmittage und Diskussionsrunden, bei denen Ärzte und Aidshilfe-Vertreter über HIV und mögliche Übertragungswege aufklären. Dort wird immer wieder klargestellt, dass HIV nicht durch Speichel übertragen werden kann, und dass eine Übertragung über Blut allenfalls denkbar wäre, wenn eine größere Menge Blut des HIV-positiven Kindes, das keine HIV-Therapie erhält, in eine offene Wunde eines HIV-negativen Kindes eingerieben würde. Dass also in Kindergärten keine Ansteckungsgefahr besteht. Dass der Weg zum Kindergarten viel gefährlicher ist als der Kontakt zwischen Kindern mit und ohne HIV.
Für viele Eltern ist deshalb nach einiger Zeit etwas anderes entscheidend: dass Nestwärme ein richtig guter Kindergarten ist. Das hat sich längt rumgesprochen: Andy hatte erstmals durch Nachbarn von Nestwärme gehört, deren Sohn die Einrichtung besucht hatte. „Wir waren schnell überzeugt von den Erzieherinnen. Die sind super, die haben ein Herz für Kinder“, erzählt Andy. So ging dann auch Paulina bald zu Nestwärme. „Es ist schön, dass unsere Kinder eine Zeit lang zusammen in den Kindergarten gegangen sind und so eine gemeinsame Kindheit hatten.“
So einfach kann Integration sein
Auch für Charlotte, die ihren 16 Monate alten Sohn Demian gerade erst bei Nestwärme angemeldet hat, steht nicht HIV im Vordergrund. Nachdem sie aus Paris nach Kreuzberg gekommen war, wusste sie nichts über das deutsche Kindergartensystem. „Also habe ich in einem Café einen Mann und seine Tochter gefragt, wie das hier funktioniert. Die haben mir dann Nestwärme empfohlen.“ Charlotte besichtigte den Kindergarten und war angetan: „Uns hat es hier gefallen. Die Räume sind sehr groß, es gibt viel Licht, die Erzieher sind nett.“
Während also im Kindergartenalltag HIV kein großes Thema mehr ist, zieht das Thema von dort aus Kreise. Im Kindergartenbüro rufen immer wieder mal Erzieher und Lehrer an und bitten um Tipps, wie sie am besten mit HIV-positiven Kindern umgehen können.
Und Thorsten, der Fußball spielende Erzieher, gibt auch gerne Auskunft: „Eine befreundete Mutter hat mich kürzlich nach den Übertragungswegen von HIV gefragt. Ich fand gut, dass sie mich darauf angesprochen hat!“
Nur eine Gruppe ahnt von all dem nichts: Die Kinder. Gerade noch sind sie dem Ball hinterhergejagt, jetzt sitzen sie im Esszimmer auf ihren kleinen Stühlen. Es gibt Milchreis, alle haben kleine Teller vor sich und warten darauf, endlich anfangen zu dürfen.
„Willst du nicht mitessen?“, fragt ein vierjähriger Junge und zeigt auf seinen Teller. So einfach kann Integration sein.
Von Tobias Sauer