Wichtelterror

Jetzt steh ich da, ich armer Tor und….
….nee, das muss wirklich nicht sein. Warum habe ich da bloß mitgemacht? Es ist doch jedes Mal das Gleiche. Jedenfalls befinde ich mich gerade im Supermarkt meines Vertrauens – also der bekannte Discounter von den toten Brüdern, da wo alles schön billig ist – habe alles eingekauft, was ich brauche und jetzt muss ich unbedingt noch zehn Euro ausgeben.
Zehn Euro!
Kann mir mal jemand sagen, was es hier in diesem Laden für zehn Euro gibt?
Die auf edel gemachten Pralinen kosten nur Dreineunundneunzig. Eine Packung gemischten Weihnachtssüßkram gibt es für Zweineunundneunzig. Die Weihnachtsbaumlichterkette würde neunzehn neunundneunzig kosten, das sprengt das Budget. Einen Fuselwhisky gibt es für Acht neunundneunzig, aber ich nehme mal an, dass die Ayse sowas nicht anrühren wird. Obwohl… dann kann sie es ja vielleicht weiterverschenken. Tu ich ja auch immer. Am Besten gleich originalverpackt, dann hat man noch weniger Arbeit. Bloß jetzt gerade habe ich nichts passendes im Schrank. Also so zwei oder drei Flaschen Wein vielleicht, aber… warum auch musste ich bloß die Ayse ziehen? Die kenne ich ja nun absolut nicht.
Ayse ist eine von den neuen Schwestern bei uns. Genauso wie die Nathalie. Nathalie hat schöne braune Locken, eine ordentliche Oberweite, ist ein bisschen speckig gebaut und von ihrer Art her ein wenig wie Jenny vor fünf Jahren. Also quirlig, fröhlich und mit Strahleaugen und vorletzte Woche hat sie mir einen Korb unter die Nase gehalten mit der unmissverständlichen Aufforderung: “Hey, Doktor, Sie ziehen jetzt auch eine!”
Ja, und da hab ich die Ayse gezogen. Und morgen ist Abgabegeschluss. Weil Übermorgen ist Weihnachtsfeier. Und dann kriege ich vermutlich eine Flasche Schnaps, den ich nicht trinke oder ein paar furchtbare Weihnachtssüßigkeiten, die ich nicht esse oder irgendein Duschgelzeugskram, das ich niemals verwenden werde. Und die Ayse kriegt…. das weiß ich noch nicht.
Zwei Packungen Slip-Einlagen für einsneunundneunzig?
Eine nachgemachte Rolex-Kopie für vierzehn Neunundneunzig? Würde wieder mal das Budget sprengen, aber…. gibt’s eh nur noch in der Herrenausführung. Herrenhemden für neun neunundneunzig würde es auch noch geben. Und diese Blümchen im Porzellan-Nikolaus-Made-in-China-Blumentopf… was kosten die? Keine Ahnung. Okay, dann nehme ich halt noch eine Packung Einsneunundneunzig-Pralinen dazu, und dann passt das schon. Erleichtert schiebe ich meinen Wagen zur Kasse.
Vor mir nölt etwas.
“Oma, will ein Brötchen, Oma, Brötchen!” nölt es aus der einen Richtung.
“Schokolade!” nölt es von knapp daneben.
Oma dreht sich um und….
“Hey, Herr Doktor, Sie auch hier?”
Schwester Paula strahlt mich über ihren vollgepackten Einkaufswagen und ihre zwei Enkelkinder hinweg an. Sie ist nämlich letztens Oma geworden, die Schwester Paula. Und die Enkelkinder habe ich sozusagen aufwachsen sehen, auf herumgezeigten Photos im Verlauf der letzten drei Jahren.
“Na, Herr Doktor, kaufenseaucheinfürdiefeiertage?”
Schwester Paula mustert misstrauisch mein Sixpack Dosenbier, die Flasche Billigfuselrum Marke “Captain Jack”, drei Tüten Chips und zehn Packungen Erdnüsse. Erdnüsse sind billig und nahrhaft.
“Waswollense denn damit?” fragt sie und deutet auf den Porzellan-Nikolaus-Made-in-China.
Aber dann nölt Enkel Nummer eins zum Glück wieder und sie muss sich umdrehen.
Unter den Bergen von Backzutaten und Putzmitteln sehe ich eine Geschenkpackung Männerduschzeugkram hervorleuchten.