Vor knapp 3 Jahren hatte ich einen Beitrag zur Gesundheit und Güte von Orangensaft veröffentlicht: Einen Orangensaft ohne Orange und ohne Saft, bitte. Darin versuchte ich zu erörtern, wie groß die Kluft ist zwischen dem Anspruch der Marketingabteilung der Lebensmittelindustrie, dass Orangensaft gesund sei und der traurigen (“chemischen Wirklichkeit”), die in den meisten Säften steckt. Heute ereilt mich die Kunde, dass Orangensaft zehnmal gesünder als gedacht ist (siehe scinexx.de/wissen-aktuell-18334-2014-12-08.html).
Untermauert wird diese Aussage von einer Studie aus Spanien, deren Veröffentlichung im Elsevier-Verlag erschien (Nutritional and physicochemical characteristic of commercial Spanish citrus juices.). Elsevier? Genau, dieser Verlag war es doch, der die bei ihm veröffentlichte Arbeit von Prof. Séralini über die schädlichen Effekte von GMOs bei Mäusen ohne nähere Angabe von Gründen zurückgezogen hatte: Journal retraction of Séralini study is illicit, unscientific, and unethical (siehe auch Glyphosat – sicher unsicher?).
Jetzt kann man aber gespannt sein, was Elsevier zum O-Saft zu veröffentlichen hat…
Als Erstes erfahren wir, dass der Orangensaft deshalb zehnmal gesünder ist, weil er zehnmal mehr „gesunde Antioxidantien“ liefert als bisher angenommen beziehungsweise gemessen. Wodurch sich „gesunde Antioxidantien“ von nicht gesunden unterscheiden, erfahren wir leider nicht.
Grund für die zehnfache Menge an Antioxidantien scheint zu sein, dass die Darmbakterien diese Mengen an Antioxidantien aus dem O-Saft erschließen, was verständlich machen würde, dass ein O-Saft im Glas viel weniger davon anzubieten hat als im Darm. Aber die Autoren der Arbeit weisen darauf hin, dass der Orangensaft hier nur als Beispiel genommen wurde, und dass die Messungen allgemein von Antioxidantien bei Lebensmitteln diesen Fehler aufweisen könnten. Dazu kommt, dass bei den Messungen fast ausschließlich die anti-oxidative Aktivität der flüssigen Bestandteile gemessen wird, die der festen dagegen so gut wie gar nicht. Diese festen Bestandteile, die im Dünndarm nicht resorbiert werden können, gelangen in der Folge in den Dickdarm, wo Trillionen von Darmbakterien die Verdauung fortsetzen und weitere Wirkstoffe freisetzen, unter anderem auch weitere anti-oxidativ wirksame Substanzen. Dieser Prozess, so die Autoren, geht bei den bis heute gängigen Messmethoden für Antioxidantien vollkommen verloren.
Daher hatten die Autoren eine neue Testmethode entwickelt, die die festen Bestandteile mit berücksichtigt – eine Art Darmattrappe im Labor, die die Verdauung simuliert und bei der man dann alle Bestandteile vor und nach der Verdauung auf Antioxidantien messen und analysieren kann.
Mit dieser Versuchsanordnung hatten die Autoren dann eine Reihe von „handelsüblichen“ Sorten von verschiedenen Säften untersucht, wie zum Beispiel neben dem O-Saft noch Mandarinen-, Zitronen- und Grapefruitsaft. Zum Vergleich kam auch direkt und frisch gepresster Saft aus Früchten in den „Simulator“. Wir erfahren aber hier nicht, ob die frisch gepressten Säfte besser als die mit Chemie versehenen „handelsüblichen“ Säfte abschneiden konnten. Wir erfahren nur, dass alles zehnmal besser ist als unter den alten Messverfahren. Aber wir erfahren auch, dass auch „andere Nahrungsmittel“ im Durchschnitt zehnmal mehr Antioxidantien enthalten als dies bislang gemessen werden konnte.
Damit wird klar, dass die Botschaft der Autoren lautet, dass die bislang gängigen Messmethoden für Antioxidantien in Frage zu stellen sind. Und damit sind nicht nur die O-Säfte zehnmal gesünder als gedacht, sondern fast alle Lebensmittel – wenn man die unterstellte Behauptung, zehnmal mehr Antioxidantien = zehnmal gesünder, als richtig einordnet.
Ungesunde Antioxidantien
Es ist gut zu wissen, dass unsere Lebensmittel zehnmal mehr Antioxidantien beherbergen als bislang angenommen. Daraus aber eine Verzehnfachung der gesundheitlichen Effekte zu schnitzen, ist marketinggerechtes Legoland. Denn Antioxidantien unterscheiden sich in ihrer Stärke und ihren biochemischen Eigenschaften, so dass eine einfache Mengenbeschreibung noch keine endgültige Aussage über deren gesundheitliches Potential machen kann. Näheres dazu hatte ich bereits beschrieben unter Krieg der Antioxidantien – ORAC gegen TOSC. Damit kann man festhalten, dass es zwar keine ungesunden Antioxidantien gibt, dafür aber gesündere und weniger gesunde, je nach Stärke der anti-oxidativen Wirksamkeit.
Aus der oben vorliegenden Arbeit jedoch geht nicht hervor, ob die neue Messmethode auch in der Lage ist, die Qualität der von ihr gemessenen Antioxidantien zu bestimmen. Ich fürchte fast, dass dies nicht der Fall ist. Damit ist für mich der Jubel über die zehnfach gesündere Wirksamkeit von Orangensaft nicht nur zu früh, sondern „schmeckt“ nach O-Saft-Werbung für Wissenschaftsgläubige. Denn auch mit einem unterstellten 10-fach-Effekt in Sachen Gesundheit und Antioxidantien wird nichts von der Chemie und den anderen nicht so leckeren Zutaten im „handelsüblichen“ Industrieprodukt weggenommen. Die werbewirksame Aussage „zehnfach“ oder „zehnmal“ sagt zudem nichts aus über die absolute Menge an gesundheitlich vorteilhaften Nährstoffen oder Antioxidantien. Da kann ein O-Saft schon mal fast nichts an guten Nährstoffen haben, da der überwiegende Inhalt aus Zucker, Aromastoffen, Konservierungsstoffen und anderer Chemie besteht und nur zu wenigen Prozenten aus Fruchtfleisch. Aufgrund der neuen Messmethode wissen wir dann jetzt, dass dieses „fast nichts“ um das Zehnfache höher ausfällt. Toll!
Dass diese Gedanken nicht nur reine Vermutungen sind, sondern schon den Versuch erfahren haben, wissenschaftlich belegt zu werden, zeigt eine Arbeit aus dem Jahr 2003 aus Italien (Total Antioxidant Capacity of Plant Foods, Beverages and Oils Consumed in Italy Assessed by Three Different In Vitro Assays). Die untersuchten Getränke und Lebensmittel kamen teilweise aus dem Supermarkt, wie zum Beispiel auch der „gesunde“ Orangensaft. Getestet wurde mit der Hilfe von drei verschiedenen Tests, um der Vielfalt der Antioxidantien gerecht zu werden. Die Ergebnisse waren für den Orangensaft bei allen Tests alles andere als „gesund“: Testergebnisse für Getränke.
Hier schnitt der Orangensaft in allen drei Tests signifikant schlechter ab als zum Beispiel Rotwein, grüner Tee und vor allem Kaffee (Testergebnisse für alkoholische Getränke, Kaffee und Tees). Die anti-oxidative Wirksamkeit von O-Saft ist in etwa vergleichbar mit der von Essig. Die anderen im Supermarkt erhältlichen Säfte schnitten sogar noch schlechter ab als der Orangensaft.
Aufgrund dieser Ergebnisse wäre es mehr als empfehlenswert, den allmorgendlichen, ach so gesunden O-Saft durch eine Tasse Espresso zu ersetzen, oder? Denn ein Espresso hat eine je nach Test 12- bis 30-fach höhere anti-oxidative Kapazität als unser 10-fach testverstärkter Orangensaft. Oder wie wäre es mit einem Glas „gesunden“ Rotwein zum Frühstück? Denn der fällt immerhin noch 3- bis 7-fach günstiger aus als Orangensaft. Aber wenn Sie mich wirklich fragen wollen: Ich hätte gerne Kaffee. Aber gerne rektal. Was ich damit meine (und Warum), beschreibe ich in meinem Buch zum Kaffee-Einlauf.
So. Jetzt hätte ich die Werbung für mein “Kaffee-Buch” auch noch untergebracht
Jetzt aber zum Fazit.
Fazit
Wer auf die Trolox-Werte starrt und daraus Gesundheit ableitet, der wird nur noch Espresso und Rotwein zum Frühstück trinken dürfen. Wer Orangensaft bejubelt, weil seine gesundheitsfördernde Statistik jetzt über ein neues Messverfahren um das Zehnfache aufgeblasen wird, der sollte so konsequent sein, andere Nahrungsmittel auf noch bessere Werte abzuklappern.
Damit komme ich zu dem Schluss, dass Orangensaft so, wie er uns in den Regalen angeboten wird, meiner Meinung nach nichts mit Gesundheit zu tun hat – und wenn er noch hundertmal mehr Antioxidantien enthielte.
Dieser Beitrag Der quasi gesunde Orangensaft wurde erstmalig von Heilpraktiker René Gräber auf NaturHeilt.com Blog veröffentlicht.