Nicht nur vor dem Hintergrund des demografischen Wandels stehen Krankenversicherungen vor neuen Herausforderungen. Wie man diesen begegnen kann und welche Rolle dabei auch die Versicherten spielen wird nicht nur im Young Lions Gesundheitsparlament diskutiert. Auch die Versicherer entwickeln neue Modelle. Wir haben mit Klaus-Dieter Dombke, Leiter des Leistungs- und Gesundheitsmanagements bei der AXA Krankenversicherung und mit Annegret Schnick, Vorsitzende des Ausschusses Wettbewerbsfähigkeit des Young Lions Gesundheitsparlaments.
Was ist Ihre Idee für die Versicherung von morgen und wie sehen Sie künftig die Rolle des Versicherers?
Klaus-Dieter Dombke: „Die Leistung der Versicherung von morgen besteht in viel mehr, als nur Kosten zu erstatten: Der Versicherer soll für seine Versicherten ein zuverlässiger, partnerschaftlicher Gesundheitsbegleiter sein. Basis dieser Begleitung ist die Überzeugung, dass jeder Versicherte seine Gesundheit aktiv gestalten kann. Der Versicherer muss dazu passende Angebote unterbreiten. AXA verfolgt diese Idee bereits seit einigen Jahren: Der gesundheitsservice 360° ist darüber hinaus ein kostenfreies Gesundheitsprogramm, das die Versicherten individuell in der aktiven Gestaltung ihrer Gesundheit absichert. Im Zentrum stehen Vorsorge, Orientierung, Versorgung und Betreuung.”
Annegret: „Derzeit ist unser System aber noch ziemlich stabil. Das wird genau so lange funktionieren, wie der Generationenvertrag funktioniert. Mit dem demographischen Wandel ist diese Voraussetzung aber nicht mehr lange gegeben. Von einer persönlichen Warte heraus, finde ich für die Zukunft risiko-equivalente Prämien interessant: Jede/r einzelne bezahlt nach Alter, Geschlecht, Beruf oder Risiko. Das ist in Ansätzen in der PKV schon üblich. Dieses Modell darf den sozialen Charakter aber nicht verlieren: Von reich zu arm, von gesund zu krank – das muss meiner Meinung nach auf jeden Fall bestehen bleiben.“
Was bedeutet das konkret?
Klaus-Dieter Dombke: „In der Vorsorge bieten wir auch Präventionsangebote. Unterstützung bei der Orientierung bieten wir zum Beispiel durch das Gesundheitstelefon, über das sich hochqualifizierte Ansprechpartner rund um die Uhr um die gesundheitlichen Anliegen der Versicherten kümmern. Im Fall einer chronischen Erkrankung koordinieren speziell ausgebildete Mitarbeiter sämtliche therapeutische Maßnahmen. Und bei einer schweren Erkrankung oder einer Unfallverletzung hilft ein persönlicher Ansprechpartner dabei, den Therapieablauf zu planen. Die sorgfältige Organisation der Behandlung ermöglicht schnellere Heilungserfolge und erleichtert den Umgang mit der Erkrankung. All das gehört aus unserer Sicht zu einer aktiven Rolle des Versicherers. Die Rückmeldungen unserer Versicherten zeigen uns, dass wir damit auf einem guten Weg sind.”
Annegret: „Konkret heißt das, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen, um das Versicherungssystem dem Wandel anzupassen. Auch in der Schweiz hat man das grad wieder diskutiert. Wir haben bei uns im Ausschuss einen ähnlichen Ansatz überlegt. Die „Basisversicherung“, die wir zum letzten Ergebnispapier konzipiert haben, kann letztlich auch als Einheitsversicherung ausgestaltet werden. Wir sind uns allerdings in unserem Ausschuss darüber einig, dass das Solidarprinzip – also die einkommensabhängige Beitragszahlung aber der beitragsunabhängige Leistungsbezug, welches derzeit in Deutschland besteht – auf jeden Fall beibehalten werden muss. Wichtig ist, dass im Einklang zum Solidargedanken, einkommensschwache Bürger einen Versicherungszuschuss bekommen. Letztendlich muss jeder Bürger einen Zugang zu der medizinischen Grundversorgung erhalten. Wir stellen uns vor, dass das ähnlich funktioniert wie derzeit in den Niederlanden: Ein Basispaket wird gesetzlich geregelt, alle anderen Leistungen sind vom Staat losgelöst.
Der Staat muss die Regeln vorgeben und eine Kosten-Nutzen-Bewertung der Basisleistungen vornehmen, darüber hinaus agieren andere Akteure durch Leistungs- und Preiswettbewerb. In Deutschland passiert das auch schon in Anfängen. Die größte Herausforderung besteht dabei in der Definition des Mindestschutzes und der Basisleistung. Ansätze dazu bestehen bspw. bereits in den USA und den Niederlanden. Zum Beispiel könnte das so aussehen, dass ein Diabetes-Patient, wie jeder Bürger, die normale Basisversorgung erhält, aber darüber hinaus noch spezifische auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Zusätze wettbewerblich angeboten werden können. Spezielle Bonussysteme und eine zusätzliche Versicherung nur für Diabetiker.
Die Kosten des Gesundheitssystems müssen auf jeden Fall für diejenigen, die es nicht können, gesellschaftlich getragen werden. Der Ausschuss befasst sich aktuell mit der Frage, wie dabei Preis-, Leistungs- und Qualitätswettbewerb beispielhaft umgesetzt werden können und unmittelbar einen Nutzen für den Patienten herstellen.”
Inwiefern glauben Sie, spielen technische Fortschritte in der Zukunft eine Rolle in der Gesundheitsversorgung?
Klaus-Dieter Dombke: „Die Bedeutung des technischen Fortschritts für die Gesundheitsversorgung ist enorm. Kunden messen zum Beispiel bestimmte Vitalwerte immer häufiger selbst, werden dabei künftig aber auch professionelle Unterstützung bei der Bewertung und den zu empfehlenden Handlungen benötigen. Durch die Digitalisierung ergeben sich große Chancen. Online-Unterstützung ist hier ein wichtiger Baustein, etwa bei Burn-out und Depression. AXA bietet zum Beispiel über einen Kooperationspartner Patienten mit depressiven Symptomen die kostenfreie Teilnahme an einem Online-Unterstützungsprogramm an, das als Soforthilfe beispielsweise eine mögliche Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken kann. Außerdem haben wir die Online-Plattform www.meine-gesunde-seele.de aufgebaut, auf der sich Interessierte oder Betroffene rund um das Thema Depression informieren können.”
Annegret: „Ich denke sie spielen schon jetzt eine große Rolle. Im Gesundheitswesen dienen sie zum einen als Hilfsmittel ärztlicher Leistungen. In Dänemark zum Beispiel können Dialyse-Patienten nach einer Schulung ihre Behandlung selber von zu Hause aus umsetzen. Zum anderen kann Technologie zur Serviceorientierung der Leistungserbringer dienen: So könnten mithilfe einer App Patienten nach einem stationären Aufenthalt Fragen zur Zufriedenheit beantworten und diese so den Verantwortlichen darstellen.
Und natürlich werden in Zukunft auch ärztliche Leistungen durch Telemedizin und die so deutlich verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Arzt und Patient profitieren. In England kann man jetzt schon mit einem Arzt via Internet kommunizieren, der z. T. auch eine Diagnose stellt. Die Frage bleibt: inwieweit kann Technologie die ärztliche Leistung bzw. medizinische Versorgung zum Nutzes des Patienten sogar substituieren.
Ich gehe sogar noch weiter: Auch wenn bisher vielleicht belächelt – warum sollten nicht in Zukunft auch Lieferdrohnen auch irgendwann Versandapotheken ersetzen können. Oder personal trainer per Hologramm mir unterwegs Beine machen?– letztendlich gibt es die Technologie schon, offen bleibt wie und mit welchem Ziel sie eingesetzt wird.“
Bieten sich durch die Digitalisierung auch Chancen zur Unterstützung des Arztes?
Klaus-Dieter Dombke: „Ja, hier bestehen zahlreiche Möglichkeiten. Einen konkreten Ansatzpunkt bieten etwa Softwarelösungen, die Ärzte bei der Begleitung chronisch erkrankter Patienten unterstützen. AXA ermöglicht Hinweise in einer Arztinformationssoftware, welche die Kommunikation zwischen Arzt und Patient verbessern soll. Diese Hinweise unterstützen den Arzt unter anderem durch gezielte Informationen bei der Hilfsmittelversorgung, Unterstützungsoptionen chronisch Kranker und zur sicheren Medikamentenvergabe und -einnahme. Der Patient profitiert unter anderem davon, dass gefährliche Wechselwirkungen vermieden werden.”
Annegret: “Eine Unterstützung bietet sich hier auf jeden Fall für den Arzt. Das zeigt ja auch bereits die Telematik, wo beispielsweise Patienten selber Vitalparameter über ein Web-Portal aufnehmen und ihren Betreuern in einem automatischen Callcenter übermitteln können. Den Einsatz weiterer Technologien wird der Arzt allerdings nur einsetzen, wenn er einen unmittelbaren Anreiz erhält, bspw. nachgewiesene Optimierung der Behandlung oder Erstattung des Einsatzes. Der medizinisch-technische Fortschritt geht einher mit der Digitalisierung und es gibt viel Potential. Mit dem Einsatz und den wesentlichen Rahmenbedingungen beschäftigt sich derzeit der Ausschuss Wettbewerbsfähigkeit.”
Über den Nutzen von Apps wird intensiv diskutiert. Auch bei Ihnen?
Klaus-Dieter Dombke: „Ja, für uns sind insbesondere unterstützende Therapieformen durch Apps ein wichtiges Feld. So kann zum Beispiel eine App Kindern mit der Sehschwäche Amblyopie helfen, die bisher allein durch das Abkleben des gesunden Auges therapiert wurde. Die internetbasierte Therapie kann das schwache Auge intensiv stimulieren und so die Sehleistung verbessern. Als erstes privates Krankenversicherungsunternehmen in Deutschland übernimmt AXA daher die Kosten solcher ärztlich verordneten Therapien. Wir glauben fest an die positive Rolle des technischen Fortschritts und unterstützen überzeugende Lösungen gezielt.”
Annegret: “Gesundheits-Apps und ihre Rollen sind einen großen Bestandteil der Diskussion innerhalb unseres Ausschusses. Wir haben zum Beispiel die wesentlichen Rahmenparameter für Diabetes-Apps aus der Sicht des Patienten beleuchtet. Projekte großer Smartphone-Hersteller (bspw. Healthkit von Apple) zeigen deutlich, dass hier enorme Anstrengungen in diese Richtung unternommen werden. Aktuell bestehen allerdings noch viele Probleme bzgl. des breiten Einsatzes. Viele Fragen zur Erstattung, Wirksamkeit, Akzeptanz, Regulierung usw. sind ungeklärt. Aktuell hat der Ausschuss recherchiert, dass der Begriff Gesundheits-App noch nicht eindeutig bestimmt ist. Im iTunes US-Store wurden im Jahr 2013 über 43.000 Apps aus dem Bereich Gesundheit und Fitness gezählt. Davon richteten sich mehr 16.000 an Patienten. Der Großteil ist zielt dabei auf Information, Prävention und gesunde Lebensführung. Auch wenn diese Zahlen zunächst sehr beeindruckend erscheinen, relativiert sich das Ganze beim Blick auf die Download-Zahlen. Nur ein geringer Anteil der Apps findet tatsächlich eine nennenswerte Anzahl an Nutzern Die Apps fungieren bislang eher als Marketing-Tool – nicht als medizinisches Gerät. Manchmal gibt es einzelne gute Funktionen, aber die sind nicht alle in einer App kombiniert und die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten sind nicht ganzheitlich abgedeckt. Wir berücksichtigen in den Diskussionen und Entwürfen auch die oft beschworene Angst vorm „gläsernen Patienten“. Es gibt logische Maßnahmen, welche dem Datenmissbrauch vorbeugen, ausgeschlossen werden kann er als Risiko nie. Die Befürchtungen sollten jedoch nicht dazu führen, Gesundheits-Apps zu ignorieren.”
Denken Sie, dass es umsetzbar wäre, Boni für gesundheitsbewusste Versicherte einzuführen?
Klaus-Dieter Dombke: „Wir sind da schon einen Schritt weiter: So fördert die AXA eine gesunde Lebensweise der Versicherten schon heute. Daher bieten wir bereits seit einigen Jahren ein Bonussystem an, das eine gesunde Lebensweise belohnt. Konkret bedeutet das: Wenn die Versicherten zum Beispiel nicht rauchen, einen bestimmten BMI-Wert aufweisen oder das Sportabzeichen ablegen, sagen wir mit Bonuszahlungen „Danke!“.”
Annegret: „Diese Fragestellung muss man von zwei Seiten betrachten: Zum einen von mir selber. Ich als Person finde es super, mich gesund zu ernähren, nicht zu rauchen, nicht zu trinken etc. und dafür Boni zu bekommen. Politisch lässt sich das aber schwer umsetzen. Denn Art. 2 Abs. 1 GG stellt dar, dass jeder Mensch das Recht auf „die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit…“ besitzt, jedoch nur „soweit er nicht Rechte anderer verletzt“. Diskussionen entstehen daher über die Möglichkeiten gesundheitsbewusstes Verhalten zu belohnen und gesundheitsschädigendes Verhalten zu sanktionieren.
Bezogen auf das Gesundheitswesen sagt § 1 des SGB V jedoch u. a. aus, dass „die Versicherten für ihre Gesundheit mitverantwortlich sind; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung… dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit … zu vermeiden…“. Der Ausschuss diskutiert vielmehr, inwieweit der Einzelne trotz Art. 1 GG die Pflicht hat, mehr individuelle Verantwortung für seine Gesundheit gegenüber der Solidargemeinschaft zu übernehmen.
Natürlich stellt sich auch die Frage, ob Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention Aufgabe der Krankenkasse sein muss und / oder darf. Projekte der Verhaltens- und Verhältnisprävention bestehen bereits, bspw. lernen Kinder in der Grundschule zusammen mit ihren Eltern, wie man richtig kocht. Oder im Sinne des betrieblichen Gesundheitsmanagements sind verschiedene Maßnahmen für die Arbeitnehmer denkbar. Letztendlich ist immer die Frage, wessen Aufgabe das ist, welchen Ziel wie verfolgt werden und wer es zahlt.“
Welche Verantwortung hat der Patient bei seiner Behandlung?
Klaus-Dieter Dombke: „Wir sind überzeugt davon, dass jeder Versicherte seine Gesundheit aktiv gestalten kann. Daraus leitet sich auch die Eigenverantwortung eines Patienten ab. Ein Beispiel sind die chronischen Erkrankungen, für deren Verlauf das Verhalten der Patienten wichtiger ist als die „Befähigung“ des Arztes oder Apothekers. Studien zeigen, dass bei chronischen Erkrankungen bis zu 90 Prozent des Behandlungserfolges in den Händen der Betroffenen liegt. Aus dieser Einsicht ergeben sich konkrete Aufgaben: Wir müssen die Versicherten befähigen, ihrer Verantwortung zur aktiven Gestaltung ihrer Gesundheit nachzukommen und ihren eigenen Gesundheitsweg zu gehen. Ein wichtiger Schlüssel dazu ist eine patientenzentrierte, ganzheitliche Gesundheitskommunikation mit quantifizierbarer Patientensegmentierung. Wir müssen kontinuierlich daran arbeiten, die Selbstmanagementfähigkeiten von Patienten weiter zu verbessern.”
Annegret:„Das bedeutet natürlich auf der einen Seite keine unmittelbare Kostenreduktion, aber eine bessere Verteilung. Wenn der Versicherte es entscheiden kann, könnte die Wahl lauten: Wenn ich ungesund leben will, zahle ich halt mehr. Wir sind im Ausschuss mittlerweile soweit, dass wir sowohl über Bonus- als auch Maluszahlungen nachdenken. Unterschied ist, dass wir diese Optionen im Rahmen eines Behandlungssystems „DMP 2.0“ für den Diabetes-Patienten betrachten. Der Gedanke dahinter ist, dass jemand, der Leistungen im Rahmen eines Programms in Anspruch nimmt, sich aber nicht an dem System beteiligt, selber dafür verantwortlich ist. Für den aktiven Entschluss dagegen sollte nicht die Gemeinschaft zahlen müssen. Es ist aber immer das gleiche Problem, wenn man über Präventivmaßnahmen spricht: da man meist keine Kontroll-Gruppe hat, ist die Effektivität bzw. Effizient der Maßnahmen schwer darstellbar.”