Geheimsache Fort Detrick

Entstammt HIV einem US-Biowaffenlabor? Diese Verschwörungstheorie lebt ungebrochen weiter, obwohl sie längst als eine aufwendig inszenierte Kampagne des sowjetischen Geheimdiensts enttarnt ist. Eine Studie liefert dazu neue Dokumente.

Als Anfang der 1980er-Jahre die ersten Meldungen über die neuartige Immunschwäche-Krankheit um die Welt gingen, blieben viele Fragen zunächst unbeantwortet. Zum Beispiel, woher das auslösende Virus eigentlich stammte und warum es sich hauptsächlich unter Drogenabhängigen, Schwulen, Prostituierten, Afroamerikanern und US-Immigranten aus Haiti auszubreiten schien.

Hatte man HIV etwa entwickelt, um ganz gezielt diese Gesellschaftsgruppen zu treffen? Ein merkwürdiges Gerücht zog plötzlich Kreise, das eine erschreckende Erklärung dafür bot: HIV sei nichts anders als eine Biowaffe, entwickelt in einem geheimen Forschungslabor des Pentagon. Sollten also tatsächlich Gefängnisinsassen zu Menschenversuchen missbraucht und durch sie die Viren unkontrolliert weiterverbreitet worden sein?

Wurde HIV als Biowaffe entwickelt?

Damit sich diese These so hartnäckig halten konnte, selbst dann noch, als sie längst widerlegt war und es wissenschaftlich belegte Erklärungen zur Entstehung von HIV gab, wurde viel Aufwand getrieben – und zwar vom sowjetischen KGB, tatkräftig unterstützt von Kollegen in den Bruderländern, vor allem der DDR-Staatsicherheit. Aufschluss darüber gibt die Studie „Die AIDS-Verschwörung“ von Douglas Selvage und Christopher Nehring.

Ganz neu ist diese Entdeckung nicht. Doch dank des Aktenmaterials, das die beiden Wissenschaftler unter anderem in bulgarischen Archiven ausfindig machten, ist diese gleichermaßen abenteuerliche wie ungeheuerliche Geschichte nun detailliert nachzulesen. Demnach haben KGB und Stasi 1985 ihre bulgarischen Kollegen in das Projekt „Denver“ eingeweiht.

Der Plan: „Zur Aufdeckung der Gefahren, die der Menschheit aus Forschung, Produktion und Einsatz von B-Waffen erwachsen, und zur Stärkung antiamerikanischer Vorbehalte in der Welt sowie zur Initiierung innenpolitischer Auseinandersetzungen in den USA übergibt die DDR-Seite eine wissenschaftliche Studie und andere Materialien, die belegen, dass AIDS aus den USA und nicht aus Afrika stammt und AIDS ein Produkt der B-Waffenforschung der USA ist.“

Gezielte Desinformation

Wie alle guten oder gut erfundenen Verschwörungstheorien entwickelte auch die vom künstlich erzeugten Virus eine eigene Dynamik. Bewusste Falsch- und Desinformation des KGB und der Stasi nährten und bestätigten sich jeweils wechselseitig. Dazu wurden Beiträge in wissenschaftlichen und anderen Publikationen lanciert, die die „Fort-Detrick-These“ untermauern sollten.

Als wichtigste Kronzeugen fungierten dabei der sowjetische Biologe Jakob Segal und seine Frau Lilli, die als Immunologin tätig war. Das Forscherpaar lebte seit 1953 in der DDR und propagierte – bis zu ihrem Tod in den 1990ern – die These, HIV sei von Kampfstoffforschern des US-Militärs künstlich hergestellt worden, indem sie das Maedi-Visna-Virus mit dem T-Zell-Leukämie-Virus Typ 1 verbanden.

Wissenschaftlich beweisen konnten sie ihre Hypothese freilich nicht. Jakob Segal selbst sprach von einer „lückenlosen Indizienkette“, die allerdings lediglich aus „Möglichkeiten“, nicht aus nachprüfbaren Fakten bestand. Kurzum: sie war reine Theorie. Obwohl HIV in Blutproben nachgewiesen werden konnte, die lange vor 1979, der angeblichen „Geburtsstunde“ des Virus im US-Labor, gesammelt worden waren, ließ das Ehepaar Segal sich nicht beirren.

Eine Hypothese ohne nachprüfbare Fakten

Ob die Segals wissentlich im Dienste des KGB und der Stasi arbeiteten oder sich unwissentlich instrumentalisieren ließen, ist für Selvage und Nehring nicht eindeutlich zu beantworten. Sicher ist aber, dass die Staatssicherheit alles daransetzte, dass die Segals ihre These weltweit verbreiten konnten und zumindest aus der DDR keinen Gegenwind zu spüren bekamen.

In Wissenschaftskreisen hielt man Segals Aids-These für derart abwegig, dass man ihr nur mit Häme und Spott zu begegnen wusste. „Die Theorie ist lächerlich. Vielleicht waren es ja die Marsmännchen?“, frotzelte etwa Victor Zhdanow, Direktor des Moskauer Ivanovsky-Instituts.

Niels Sönnichsen, Leiter der Aids-Beratergruppe des DDR-Gesundheitsministeriums, sah dadurch sogar das Ansehen der gesamten DDR-Wissenschaft der Lächerlichkeit preisgegeben. Um Segal vor Anfeindungen im eigenen Land zu schützen, war es Gegnern der Segal-Thesen allerdings untersagt, darüber in der DDR und später auch im Ausland zu publizieren.

Der größte Überraschungserfolg gelang der Stasi mit einem Segal-Interview, das der DDR-Schriftsteller Stefan Heym über die „Fort-Detrick-These“ geführt hatte. Der Spiegel, die Zeit, selbst die Illustrierte Quick hatten abgelehnt, die tageszeitung schlug dann aber zu.

„Die heißeste Hysterieware der Welt“

Schließlich ging es um die „heißeste Hysterieware, die die Welt damals zu bieten hatte: Aids“, rechtfertigte sich später der zuständige taz-Redakteur Arno Widmann. Tatsächlich schlug die Veröffentlichung vor allem in linken, USA-kritischen Kreisen ein wie eine Bombe. In der „Abteilung X“ des DDR-Auslandsnachrichtendiensts dürften am 18. Februar 1987 die Sektkorken geknallt haben.

Im gleichen Jahr zog man dort Zwischenbilanz dieser „aktiven Maßnahme zur Diskreditierung der USA unter Nutzung der AIDS-Problematik“. Stolz wird von „Medienpublikationen in mehr als 50 Ländern“ und einer „starken positiven Wirkung der Maßnahme vor allem auf politische Führungskreise in Afrika“ berichtet. „Es ist beabsichtigt, die Maßnahme zu AIDS weiterzuführen und sie noch zielgerichteter gegen die aggressivsten Kreise des Monopolkapitals der USA auszurichten.“

Der Imageschaden der USA war damals offenbar beträchtlich. Die sowjetische Desinformationskampagne in Sachen Aids wurde nicht nur Thema bei einem Gipfeltreffen zwischen Michail Gorbatschow mit dem US-Außenminister George Shultz. Die USA drohten gar, die Verhandlungen zur atomaren Abrüstung platzen zu lassen, wenn die UdSSR diese „beleidigenden Verleumdungen“ nicht stoppe.

Moskau gab nach, und Wadim Pokrowski, Präsident der Akademie der Wissenschaften, distanzierte sich öffentlich von der These des amerikanischen Ursprungs von Aids: Es gebe „keinen einzigen sowjetischen Wissenschaftler, keine einzige medizinische oder wissenschaftliche Institution, die diese Position teilt.“

Beleidigende Verleumdungen

Der KGB legte das Projekt schweren Herzens zu den Akten, die Kollegen bei der DDR-Staatsicherheit jedoch wollten nicht aufgeben. Die „Kumulation der Aktion ist noch nicht erreicht“, ließ Ost-Berlin die bulgarischen Kollegen wissen.

Tatsächlich gelang den zuständigen Mitarbeitern im Stasi-Hauptquartier in der Normannenstraße wenige Monate vor der Öffnung des Eisernen Vorhangs noch ein weiterer Coup: Der Dokumentarfilm „AIDS – die Afrikalegende“ des Dokumentarfilmers Malte Rauch und des Journalisten Heimo Claasen räumte Segals Theorie breiten Raum ein und unterschlug gewichtige Gegenargumente und Forschungsergebnisse. Dreimal war diese von der Stasi indirekt mitfinanzierte ­WDR-Produktion 1989 ausgestrahlt worden. Mit dem Zusammenbruch der DDR endete schließlich auch das Projekt „Denver“.

Auch nach der politischen Wende vertrat das Forscherpaar Segal seine „Fort-Detrick-These“ und konzentrierte sich nun auf „neue Wege“ in der Aids-Therapie – wie beispielsweise die (lebensgefährliche) Dauereinnahme von Aspirin im Frühstadium der HIV-Infektion. Und selbst nach Jakob Segals Tod 1995 lebte die Theorie weiter, wie die Studie von Selvage und Nehring verdeutlicht.

Die linksextreme Marxistisch-leninistische Partei Deutschlands (MLPD) nutzte die Verschwörungstheorie in den 2000er-Jahren ebenso wie der MLPD-nahe Förderverein „Neue Wege in der HIV-Therapie“. 1996 hatte man sogar im „Rainbow“, dem Magazin der Stuttgarter AIDS-Hilfe, den wissenschaftlich längst widerlegten Spekulationen breiten Raum gegeben.

Fatale Folgen

Fatal sei dabei, so Selvage und Nehring in ihrem Resümee, dass die Fort-Detrick-Desinformationskampagne sich verselbständigt habe und bis heute Wirkung gegen die Bekämpfung der HIV-Epidemie zeige. „Nicht nur der Einsatz unwirksamer alternativer Therapien, schon der Glaube an die These von HIV als Biowaffe kann dem Schutz und der Heilung Betroffener entgegenstehen.“

Gerade bei Afro-Amerikanern und Menschen in afrikanischen Ländern seien derlei verschwörungspolitische Überzeugungen und Thesen sogenannter Aids-Leugner auf fruchtbaren Boden gefallen – mit der Folge, dass Infektionsrisiken missachtet, Therapien zu spät oder gar nicht begonnen wurden, beklagt Nicoli Nattrass, Direktorin der Aids-Forschungsabteilung an der Universität Kapstadt in ihrem Buch „AIDS Conspiracy: Science Fights Back“.

Ein Relikt aus dem Kalten Krieg fordert also auch noch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Ostblocks Menschenleben.

Douglas Selvage/Christopher Nehring: „Die AIDS-Verschwörung. Das Ministerium für Staatssicherheit und die AIDS-Desinformationskampagne des KGB“. 152 Seiten, 5 Euro. Erschienen in der Schriftenreihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, 2014.

Eine PDF-Version der Publikation ist auf www.bstu.bund.de kostenlos abrufbar.

 

Zur Abbildung: Ausschnitt aus einer am 31. Oktober 1986 in der „Prawda“ veröffentlichten Karikatur als Teil der Moskauer Desinformationskampagne.