Ein Bericht von Dr. Anno Diemer über seinen Einsatz in Kalkutta/Indien
Ein Aufenthalt in Kalkutta unterscheidet sich sehr von anderen Projekten. Der Stadt hängt der Ruf als großes indisches Armenhaus an – und viel Widersprüchliches hatte ich von dieser riesigen Stadt gehört und gelesen: „Stadt der Freude“ und der Mutter Teresa, boomendes asiatisches Zentrum und riesige Müllberge mit streunenden Hunden und Schweinen, großes hinduistisches Zentrum mit wichtigen Tempeln wie Kali Ghat und Dakshineswar und ausge-dehnte Slums; Lärm, Schmutz und Smog überall, Rikschafahrer aus Bihar, Rückzugsort für ungezählte heimatlos gewordene Menschen aus der Umgebung – dazwischen unverdrossen die Ärzte der “German Doctors“ mit ihren Anstrengungen, wenigstens ein paar hundert der Ärmsten jeden Tag medizinisch zu versorgen. Geht das überhaupt?
Wahrscheinlich ja. Jedenfalls lernte ich bei den Vorbereitungstreffen in Bad Godesberg eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen kennen, für die Kalkutta tatsächlich das Projekt schlechthin war – ebenso wie für andere ein erneuter Einsatz in Dhaka oder Chittagong, bekanntlich beides Riesenstädte im benachbarten bettelarmen Bangladesch. Alle diese Umstände machten mich sehr neugierig auf meinen Einsatz in Kalkutta als Folgeprojekt nach ersten Erfahrungen auf den Philippinen. Als Kinderarzt hatte ich mich für das Entwicklungsprojekt für Kinder gemeldet.
Malnutrition im Sinne von Unterernährung ist ein zentrales Thema in Indien – oder sollte es zumindest sein, denn nach aktuellen Angaben von UNICEF India und Weltbank (2014) lebt jedes dritte unterernährte Kind weltweit in Indien, dort hungern prozentual mehr Menschen als im Sudan oder Nordkorea oder im sub-saharischen Afrika. Anders ausgedrückt: Trotz einer sehr guten wirtschaftlichen Entwicklung hat Indien mit mehr als 200 Millionen Menschen die meisten Hungerleidenden weltweit. Das Hauptproblem zeigt sich vor allem bei den untergewichtigen Kindern unter fünf Jahren, wofür zum Großteil der schlechte Ernährungs- und Bildungsstatus der indischen Frauen verantwortlich ist (lt. Wikipedia 2014). In manchen Bundesstaaten sind über 50% der Kinder unter 3 Jahren mittelgradig bis schwer unterernährt, Mädchen trifft es wegen ihrer geringen gesellschaftlichen Geltung besonders hart.
Die Malnutrition hat Folgen: 63 Kinder von 1000 sterben noch im ersten Lebensjahr, eine ähnliche Sterblichkeitshäufung betrifft ihre Mütter. Jede dritte Frau in Indien ist chronisch unterernährt und anämisch. Jeder zweite Todesfall von Kindern aller Altersgruppen geht auf Malnutrition zurück, die die Infektionsabwehr massiv schwächt und auch die Fähigkeit zu lernen drastisch verschlechtert (UNICEF India 2014). Offenbar scheinen aber leider diese Erkenntnisse noch nicht bei allen Verantwortlichen angekommen zu sein. Noch heute verbreiten manche, es gebe im Lande genug Lebensmittel für alle, der Hunger sei in Indien überwunden. So habe ich es auch jetzt in indischen Zeitungen Kolkatas gelesen. Und das, obwohl Indien in der globalen Rangliste des “world hunger index“ 2013 mit 23,7 Punkten („sehr ernst“) die Position 66 von 88 klassifizierten Ländern einnimmt!
Leider also nur propagandistische Äußerungen, auch konnte ich mich täglich und überall schon auf den Straßen vom Gegenteil überzeugen. Die seit vielen Jahren gut dokumentierten Verluste bei der Ernte und später durch unsachgemäße Lagerung und Transport sollen bei 30% der Erntemengen liegen, hinzu kommt die Preisgestaltung: eiweißreiche Lebensmittel, Spurenelemente und Vitamine sind für die Armen unerschwinglich. Auch verliert Indien nach aktuellem Bericht der WELT durch den Hunger Jahr für Jahr ein Prozent seines Bruttoinlandsprodukts. Andererseits ist das Land sehr ambitioniert, bis 2022 wird der erste indische bemannte Weltraumflug angestrebt!
Wie unsere deutsch-indische Partnerorganisation „Lake Gardens Women & Children Development Center“ berichtete, ist noch nicht einmal ein altes Gesetz aus den 70er Jahren, das jeder indischen stillenden Frau eine warme Mahlzeit täglich garantiert, umgesetzt worden. Wohl auch nicht in West-Bengalen, denn keine meiner Beratungsstunden ohne sichtbar deutlich untergewichtige Mütter, die wir mit Nutrimix, Bananen und Eiern zu unterstützen suchten. “Lake Gardens“ ruft deshalb die betroffenen Frauen auf, für dieses Recht zu kämpfen! Aber: 2013 wurde ein neues Gesetz verabschiedet, wonach zwei Drittel der indischen Bevölkerung Anspruch auf subventioniertes Getreide haben (u.a. FAZ und WELT, 2014). Nur ein Wahlgeschenk, wie die indische Opposition vermutet? Man darf gespannt sein! Das Beispiel Brasilien, wo nach UNO-Angaben durch das Programm „Bolsa Familia“ und flankierende Maßnahmen des Staates und der Weltbank seit 2011 (noch 25 Millionen Hungernde!) der Hunger besiegt werden konnte, zeigt, daß sich ernstzunehmende Bemü-hungen rentieren – wenn die Regierungen es wirklich wollen!
Vor Ort beeindruckt die Motivation und Bemühungen der „Lake Gardens“-MitarbeiterInnen bei den langwierigen und offenbar manchmal schwierigen Gesprächen mit den Müttern. Gerade beim Erstkontakt mit neu hinzukommenden Familien war das deutlich zu spüren. Uns allen war klar, daß es hier genau so wie bei den klinischen Ambulanzprojekten nur darum gehen konnte, konkrete Hilfe im Einzelfall zu leisten, die in der große Masse zwar nicht auffällt, für die Betroffenen aber von vitaler Bedeutung ist. Bei vielen meiner Patienten ließ sich das auch anhand einer ansteigenden Gewichtskurve erkennen, allerdings bei weitem nicht bei allen Kindern, die bei gleicher Supplementierung nur eine unzureichende Gewichts-zunahme aufwiesen. Hier bleibt natürlich die Frage offen, ob wirklich nur das vorgestellte Kind mit der Zusatznahrung gekräftigt wurde, oder ob die für seine Person sorgsam ermittelte Ration nicht doch im Familienessen unterging – was ich vor dem Hintergrund der indischen Realität keiner Mutter verübeln kann.
Müssen wir an dieser Stelle im Ansatz des Projektes etwas ändern? Sollte es vielleicht umfassender angelegt werden? Beides sind für mich wichtige Fragen für die im Februar anstehende Überarbeitung des Malnutritionsprojekts. Ansonsten bot dieses Projekt auch willkommene Gelegenheit, den Impfstatus der Kinder zu überprüfen, häufig Vitamin A zu geben oder eine Entwurmung durchzuführen. Um das permanente Training der Mitarbeiterinnen von “Lake Gardens“ zu verbessern und auch um die Patienteninformationen besser und permanent auswerten zu können, wäre eine ärztliche Doppelbesetzung des Projektes von großem Vorteil.
Im September und Oktober werden in Indien die großen Hindufeste der Durja Puja und Kali Puja gefeiert. Dann gab es mehrere Tage, an denen die Beratungen bei “Lake Gardens“ ausfielen, und ich habe mich an der allgemein-klinischen Versorgung der Patienten mit den anderen Kollegen zusammen beteiligt, sofern eine Übersetzerin frei war. So konnte ich noch andere Einsatzstellen in den Slums von Howrah und Kalkutta sehen und viele wichtige und oft erschütternde Eindrücke erhalten, sowohl vom Krankheitsspektrum als auch von den extremen sozialen Gegensätzen mit verbreiteter Obdachlosigkeit, ungezählten und sehr oft auch verkrüppelten Bettlern und verfaulenden Abfallhaufen mit Tierkadavern gleich neben edlen Fassaden. Genauso extrem manchmal die Gegensätze bei der alltäglichen Patienten-versorgung, wo das Geld viel zu oft die ausschlaggebende Rolle spielt, ob Untersuchungen oder nötige Therapien gemacht werden können. Eine gesetzliche Krankenversicherung gibt es in Indien ja leider nicht.
Ich darf sagen, daß sich meine ursprünglichen gemischten Gefühle schon in den ersten Tagen verflüchtigt haben. Zu einem guten Teil hat sicher die ausgezeichnete Atmosphäre in unserer Gruppe mit guten Gesprächen und lebhaftem Austausch von Erfahrungen und Gedanken beigetragen, daß ich mir rasch wieder meiner Möglichkeiten und Grenzen bewußt wurde, hinzu kommen eine gute Organisation und Zusammenarbeit mit “Howrah South Point“ – und auch hier überall die Anerkennung und der tiefe Dank der Patienten.
Kalkutta ist eine sehr gute Erfahrung und Bereicherung für mich geworden, die ich bei einer Wiederholung auch gerne vertiefen werde. Mein persönliches Fazit: Die Probleme des Landes sind gigantisch, und der „Stadt der Freude“ muß sicher vor allem die Politik helfen. Aber die Mühe des Einsatzes für den einzelnen Patienten lohnt unbedingt.
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