Dr. Renate Müller ist Mit-Initiatorin von TRANSFERIS-Leadership in Healthcare. Sie hat langjährige Erfahrung im Gesundheitswesen und ist als Strategieberaterin mit einem Schwerpunkt für sektorübergreifende Projekte Mitgeschäftsführerin von Brandleague Ltd. in München. Die Interview-Fragen stellte Alexandra Köhler, Mitglied im Vorstand der Stiftung Gesundheit.
Was war der Auslöser, TRANSFERIS zu gründen?
Das deutsche Gesundheitswesen ist durch hohe Komplexität und eine Vielfalt von Akteuren und Interessenlagen gekennzeichnet. Dies erschwert belastbare nachhaltige Lösungen oder blockiert sie sogar durch einseitige lobbyistische Zielverfolgung von Institutionen und Unternehmen. Jeder agiert in seiner eigenen Welt. Deshalb braucht das System neue bereichs- und sektorenübergreifende Kommunikationsformen. Voraussetzung dafür ist, dass die Partner ein besseres Wissen voneinander besitzen und gegenseitiges Verständnis füreinander aufbringen.
Wie erklären Sie sich die Abschottungstendenzen maßgeblicher Institutionen gegeneinander?
Vieles hat sicher mit der Entstehung und der Geschichte der jeweiligen Player zu tun und liegt nicht in einer erklärten Absicht, sich auf eine „Insel“ zurückzuziehen und sich dort abzuschotten. Unser bestehendes Gesundheitssystem fußt auf historischen Gegebenheiten, die heute so zum Teil nicht mehr existieren, aber immer noch das Selbstverständnis und auch die rechtlichen Rahmenbedingungen prägen.
Die allermeisten, die im Gesundheitswesen aktiv sind, arbeiten mit dem Anspruch, Gutes für Bürger, Versorgung und das Gesundheitssystem zu tun. Das Problem ist nur, dass die Einschätzung, was das jeweils Beste für Bürger, Patienten und Gesundheitssystem ist, zum Teil sehr unterschiedlich ist. Und es mangelt an einer offenen Diskussion über einen gemeinsam zu definierenden Nutzen des Gesundheitssystems für unsere Gesellschaft.
Wer steckt hinter TRANSFERIS?
Prof. Dr. Gisela Fischer und ich sind die Initiatorinnen von TRANSFERIS-Leadership in Healthcare und beide schon lange Jahre im Gesundheitswesen tätig. Frau Prof. Fischer war Direktorin des Lehrstuhls Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover und Mitglied des Sachverständigenrates. Ich bin als Strategieberaterin mit einem Schwerpunkt für sektorübergreifende Projekte Mitgeschäftsführerin von Brandleague Ltd. in München. Wir lernten uns in der Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen (GRPG) kennen, in der Frau Fischer im Präsidium ist und ich über einige Jahre eine Arbeitsgruppe zum Themenbereich der strategischen Kommunikation von sektorenübergreifenden Versorgungsmodellen leitete.
Wir kommen aus sehr verschiedenen Arbeitsfeldern im Gesundheitssystem und uns verbindet die Überzeugung, dass Veränderung im System in den Köpfen der Führungskräfte beginnen muss, die in der Lage und Willens sind, über den eigenen Tellerrand hinaus zu denken und zu handeln. Der Name TRANSFERIS zeigt die Richtung: Das jeweilige Know-how zusammenzubringen in einem zukunftsfähigen Gesundheitssystem zum Wohl einer gesunden Gesellschaft. Deswegen ist TRANSFERIS-Leadership in Healthcare – wie die Stiftung Gesundheit auch – ein Sozialunternehmen.
Welche Ziele verfolgt TRANSFERIS maßgeblich?
TRANSFERIS besteht aus zwei aufeinander bezogene Teilen: das TRANSFERIS-Qualifizierungsprogramm und das TRANSFERIS-Forum. Beide haben zum Ziel, dass (zukünftige) Führungskräfte des Gesundheitssystems Arbeit, Ziele, Denk-, Entscheidungsgrundlagen der anderen Akteure besser verstehen lernen. Das ist die Voraussetzung für eine wirksame Zusammenarbeit. Dazu gehört, dass die Erkenntnisse und die Kontakte, zum Beispiel aus dem Qualifizierungsprogramm, in das eigene Unternehmen, in die eigenen Institution implementiert werden können. Die Teilnehmer und Mitglieder von TRANSFERIS sollen sich einer „transsektoralen Pioniergruppe“ zugehörig fühlen, die neue bereichs- und sektorenübergreifende Lösungsansätze entwickeln und realisieren. Dazu braucht es ein belastbares Kompetenznetzwerk aus Alumnis und beteiligten Institutionen und Unternehmen. Dies im TRANSFERIS-Forum kontinuierlich auszubauen und zu verfestigen, gehört auch zu den Zielen der persönlichen, partnerschaftlichen und professionellen Arbeitsweise von TRANSFERIS.
Wodurch versuchen Sie diese Ziele zu erreichen?
Das TRANSFERIS-Qualifizierungsprogramm wendet sich an Führungskräfte aus allen Bereichen des Gesundheitssektors, die in ihrem Arbeitsalltag an Schnittstellen arbeiten und diese mitgestalten. Neben dem Begreifen der jeweiligen Denk- und Arbeitsweisen der Kernplayer des Gesundheitssystems ist der persönliche Kontakt zu den anderen TRANSFERIS-Teilnehmern entscheidend, aber auch zu den Referenten der gastgebenden Einrichtungen, wie zum Beispiel Gesetzliche Krankenkassen oder Kassenärztliche Vereinigungen. Denn durch das Vertrauen, das in den fünf Modulen über zehn Monate im gemeinsamen Diskutieren und Entwickeln aufgebaut wird, ist es dann leichter, auch die Barrieren im Arbeitskontext zu überwinden und aufeinander zu zugehen.
Im TRANSFERIS-Forum wird dieses Netzwerk durch Themen-Veranstaltungen auch über das Qualifizierungsprogramm hinaus gepflegt und weiter ausgebaut. Die Teilnehmer gestalten über ihr Engagement TRANSFERIS entscheidend mit.
Wie genau sieht Ihr Qualifizierungsprogramm aus?
Fünf Kernplayer des Systems sind in fünf Modulen à zwei Tage unsere Gastgeber. In 2015 unter anderem die Bosch BKK in Stuttgart für die Gesetzlichen Krankenkassen, die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen in Hannover und mit den Marienhaus Kliniken wird diskutiert, wie ein Umwandlungsprozess vom ländlichen Krankenhaus zum ambulanten Gesundheitszentrum partnerschaftlich gelingen kann. Dabei sind zudem noch ein Ministerium und ein IT-Unternehmen als Partner.
Die Teilnehmer kommen aus allen Bereichen des Gesundheitssystems: aus Krankenkassen, Krankenhäusern, KVen, Unternehmen (Pharma, BioTech, Medizintechnik), Reha-Einrichtungen, medizinischen Fachberufen, Kommunen und Gemeinden. Als Führungskräfte haben sie mehrjährige Berufserfahrung an Schnittstellen, sie kennen das System und seine aktuellen Herausforderungen. Wichtig sind uns vor allem Offenheit und der Wunsch, sich aktiv auch über das Programm hinaus zu engagieren.
„Das Spannungsfeld zwischen nationaler und regionaler Gestaltung und Steuerung der Versorgung“ ist Thema des Qualifizierungsprogramm 2015, das nun im Februar startet. Wie können sich die beiden gegenseitig befruchten? Was kann daraus als zukunftsweisend gesehen werden? Welche Chancen für neue Versorgungsallianzen, Kooperationen, neue Verantwortlichkeiten und Partnerschaften gibt es im Rahmen von nationaler und regionaler Versorgung?
In den drei vorigen Programmen standen Wettbewerbsfragen, Innovationen für das Gesundheitssystem und die Herausforderungen eines sich verändernden Patientenverständnisses im Mittelpunkt.
Wie sahen die AHA-Effekte der bisherigen Teilnehmer aus?
Alle Teilnehmer sind überrascht von der Offenheit und unverschnörkelten Direktheit der Diskussionen, die sich in allen Programmdurchläufen zwischen den Teilnehmern, aber auch bei den gastgebenden Einrichtungen von Ministerien, Gesetzlichen Krankenversicherungen, Krankenhausgesellschaften, Industrie oder Kassenärztliche Vereinigungen zeigt. Das ist nur in einer partnerschaftlichen und wertschätzenden Atmosphäre möglich. Überraschend hoch ist die Zahl der Teilnehmer mit langjähriger Führungsverantwortung im Gesundheitssystem, die die praxisorientierte Besonderheit von TRANSFERIS schätzen.
Von Anfang an wurde das Qualifizierungsprogramm wissenschaftlich begleitet und evaluiert, um es für Teilnehmer und Entsender nutzenstiftend weiterzuentwickeln.
Wie wird TRANSFERIS von den Playern im Gesundheitswesen angenommen?
Erfreulich hoch ist die Bereitschaft seitens der Gastgeber, das Qualifizierungsprogramm durch Input und durch die offenen Diskussionen mit den Top-Entscheidern zu unterstützen und auch zu nutzen. Denn für die Gastgeber-Seite ist der Austausch mit Führungskräften aus allen Bereichen des Gesundheitssystems in einer geschützten und vertrauensvollen Atmosphäre auch ein Gewinn.
Eine erste Masterarbeit an der Uni Bayreuth befragte die Teilnehmer. Als Kernmerkmale des TRANSFERIS-Programms wurden der innovative und interdisziplinäre Ansatz, die Besuche bei den Gastgeberinstitutionen „vor Ort“, die dadurch gewährten „Inneneinsichten“, der direkte Kontakt zu Entscheidungsträgern und die geführten Diskussionen genannt.
Mit dem erfolgreichen Start des Qualifizierungsprogramms in 2012 ist es gelungen, schon einige Einrichtungen und Unternehmen zu gewinnen, die regelmäßig Teilnehmer schicken beziehungsweise das TRANSFERIS-Programm als Teil der internen Führungskräfte-Ausbildung sehen. Das ist natürlich gut, denn so ist die Chance sehr hoch, dass die Einrichtungen selbst ein hohes Interesse haben, die gewonnen Kontakte und Erkenntnisse dann im Arbeitsalltag der entsandten Teilnehmer auch wirklich wirksam werden zu lassen.
Ein wichtiger Punkt für das Gelingen des Projekts ist, dass Teilnehmer aus wirklich allen Bereichen des Gesundheitssystems dabei sind, die es mitgestalten. Besonders gilt das für Führungskräfte mit Schnittstellenaufgaben aus den wichtigen medizinischen Fachberufen, aber auch aus städtischen, kommunalen und regionalen Strukturen und aus den Patientenorganisationen. Dazu ist es erforderlich, dass es gelingt, Stipendien für diese Teilnehmer zur Verfügung stellen zu können. Das ist auch ein Ziel des Netzwerkes TRANSFERIS-Forum.
Was wünschen Sie sich mit Bezug auf TRANSFERIS für das neue Jahr 2015?
Einige Gesellschaften, Verbände und Projekte widmen sich im Gesundheitswesen dem sektorenübergreifenden Ansatz. Es gibt eine große Menge an Know-how, das sich ergänzen und verstärken kann und muss, um mehr Gewicht und Realisierungskraft zu bekommen. Deswegen ist ein Wunsch, dass TRANSFERIS im neuen Jahr weitere Partner findet, die bereit sind, ihre spezifischen Erfahrungen und Erkenntnisse, die für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystem von Relevanz sind, zum Beispiel in gemeinsamen Veranstaltungen mit einzubringen. Und natürlich wünschen wir uns weiterhin so offene, engagierte und überzeugende Persönlichkeiten als Teilnehmer und Forums-Mitglieder.
Weitere Informationen unter: www.transferis.de
Zum Thema TRANSFERIS finden Sie auch einen Gastbeitrag von Dr. Renate Müller im aktuellen Stiftungsbrief 1-2015.