Der Brief muss unbedingt noch weg! Heute noch! Und zwar per Einschreiben, weil … damit Don Corleone ein für alle Male kapiert, dass ich sein Angebot abgelehnt habe, und zwar ein für alle Male, aber weil Don Corleone halt so ist wie er ist, hat er mir eine Frist gesetzt und die ist Morgen zu Ende und bis dahin muss der Brief bei ihm angekommen sein.
So, und jetzt wird’s Zeit: schnell das Ding ausgedruckt, aus dem Sekretariat einen Briefumschlag stibitzt und dann nix wie los zum Postamt, das ist nämlich nur bis achtzehn Uhr geöffnet und inzwischen ist es schon fast zwanzig vor.
Ich hechte also die Straße entlang, am Bahnhof vorbei zu dem wuchtigen Behördenklotz, der dort immer schon stand, seit Kaiser Wilhelms Zeiten schon. Ich sprinte die Freitreppe hoch, durch das Portal in den Vorraum und … Dong!
Die Glastür, die mich jetzt noch von der ehemals kaiserlichen Briefmarkenverkaufsanstalt trennt, ist geschlossen. Blick auf die Uhr: Fünf Minuten vor sechs. Blick auf die Glastür: Geschlossen. Blick auf das Schild daneben: Geöffnet werktags bis achtzehn Uhr. Blick auf die Glastür: Immer noch geschlossen. Blick auf das kleine Schildchen über dem Reklameplakat: Heute geschlossen wegen Istnicht. Istnicht? Betriebsversammlung ist. Höre ich von drinnen leises Kichern, Gläserklirren und Schlager-Polonäse-Musik? Kann auch Einbildung sein. Aber die Tür ist zu.
Und mein Brief muss morgen früh bei Don Corleone sein.
Okay, dann halt nicht per Einschreiben.
Immerhin, einen Briefmarkenautomaten gibt es ja hier im Vorraum und ein Briefkasten ist auch vorhanden. Also hole ich meinen stibizten Briefumschlag aus der Tasche, dazu den inzwischen etwas zerknitterten Ausdruck und ein paar Münzen im Wert von fünfundachtzig Cent, schnell ist die Briefmarke beleckt und auf den stibitzten Umschlag gepappt und den Brief in den selbigen gesteckt, muss ich nur noch schnell Don Corleones Adresse draufkritzeln, Momentmal, schnell einen Kugelschreiber finden…..
Äh…. einen Kugelschreiber?
Handy, Laptop, Ipad samt Ladegeräten ist alles vorhanden, aber einen Kugelschreiber….? Wozu braucht man sowas? Wer schreibt heutzutage denn noch auf Papier? Nur weil Don Corleone keine Kündigungen per Email akzeptiert muss ich doch noch lange nicht Papierschreibgeräte mit mir herumführen! Aber jetzt muss ich irgendwie seine Adresse aus dem Handy-Adressverzeichnis aufs Papier gebrannt kriegen, und das geht in diesem Umfeld hier nur mit der Hilfe eines schnöden Kugelschreibers. Und da hab ich keinen. Hilft alles nix. In meiner Dienstkleidung steckt jetzt mit Sicherheit ein halbes Dutzend davon und in der obersten Schublade meines Schreibtisches liegen die Dinger kiloweise herum, aber hier vor Ort… Fehlanzeige.
Und der öffentliche Kugelschreiber – also so ein abgegriffenes Ding mit Kette fest an der Wand verdübelt gibt’s hier nicht, wurde wegvandalisiert, hängt nur noch die Kette von herum.
Zaghaft klopfe ich an die Glastür. Ob sich einer der Betriebsversammelten vielleicht erbarmen mag…?
Aber nein, die hören mich gar nicht.
Verzweifelt suchend schaue ich mich um.
Und dann … hey, presto, wir sind doch modern, kundenorientiert, haben ein Qualitätsmanagement und ein offenes Ohr für die Anliegen unserer Kunden … und dieses Offene Ohr hängt in Form eines Telefonhörers in einer Nische herum. Man muss auf einen Knopf drücken, dann meldet sich nach dreimaligem Tuten eine menschliche Stimme.
“Hier ist die Serviceinformationszentrale, stets zu Diensten, was können wir für Sie tun?”
“Ich brauche einen Kugelschreiber!”
“Äh… wo sind Sie denn?”
“Hier in der Post.”
“Äh… ich meine, in welcher Stadt? Sie sprechen mit der Serviceinformationszentrale in Ganzweitweg, da müssen Sie uns schon sagen, wo Sie sich gerade befinden!”
“Äh… in Bad Dingenskirchen…”
“Bad Dingenskirchen am Pieselbach? In welcher Straße?”
“Im Postamt, sagte ich doch, also gegenüber vom Bahnhof!”
“Gegenüber vom Bahnhof, das sagt mir nichts… ich brächte schon den genauen Straßennamen!”
Wie das hier wohl heißen mag? Vermutlich Bahnhofsplatz?
“Gut, am Bahnhofsplatz sind Sie, jetzt hab ich’s gefunden! Was genau ist Ihr Anliegen?”
“Ich bräuchte mal eben einen Kugelschreiber!”
“Einen Kugelschreiber?”
“Ja, um die Adresse auf einen Brief zu schreiben!”
“Warum fragen Sie nicht die Kollegen am Schalter?”
“Weil da geschlossen ist obwohl eigentlich offen sein müsste!”
“Ah, verstehe, vermutlich Betriebsversammlung. Das machen wir öfters, wissen Sie…”
“Können Sie nicht einfach da drinnen mal fragen, ob einer vielleicht mal eben an die Tür kommt und…”
“Bedaure, Sie sprechen mit der Serviceinformationszentrale in Ganzweitweg, wir haben keinerlei Kontakt zu den Filialen vor Ort, wir können nur per Internet….”
“Entschuldigung, aber Internet habe ich selbst. Ich brauche einen Kugelschreiber!”
“….ich sehe gerade, im Gewerbegebiet an der Autobahn gibt es eine Postfiliale…”
“Mit Kugelschreiber?”
“…die welche bis Achtzehn Uhr dreißig geöffnet ist. Und die haben erst morgen Betriebsversammlung. Wenn Sie sich also beeilen….”
Und wie soll ich da hinkommen? Das sind immerhin sieben Kilometer und ohne Auto…. aber bevor ich weiter fragen kann, hat die Serviceinformationszentrale auch schon aufgelegt.
Vor der verschlossenen Glastür steht eine junge Frau mit einem großen Paket und tippt hektisch auf ihrem Handy herum.
“Wenn ich Ihnen einen Tipp geben kann: die Filiale im Gewerbegebiet an der Autobahn….”
“Da komme ich gerade her. Die nehmen keine Pakete. Sie haben mich hierher geschickt!”
Immerhin hat sie einen Kugelschreiber.
Und so schafft es mein Brief vielleicht doch noch bis morgen früh auf Don Corleones Schreibtisch.