Gerontopsychiatrie – Was passiert, wenn psychisch kranke Menschen alt werden?

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Für ältere psychisch erkrankte Menschen gibt es im Wesentlichen keine neuen oder anderen Psychotherapieverfahren und Behandlungstechniken wie für jüngere Patienten. Dennoch unterscheiden sich die Konflikte, Gedanken und Probleme von denen jüngerer Patienten. Daher gibt es psychotherapeutische Verfahren, die speziell für diese Altersgruppe entwickelt wurden.

Akzeptanz altersbezogener Veränderung und Krankheit

96 Prozent der Menschen über 70 Jahre haben mindestens eine und 30 Prozent fünf und mehr internistische, neurologische oder orthopädische behandlungsbedürftige Erkrankungen. Am häufigsten sind Gefäßerkrankungen des Herzens, des Gehirnes und des Bewegungsapparates. Meist wird eine körperliche Veränderung, chronische Erkrankung und Behinderung mit einhergehenden Funktionseinschränkungen vom Patienten abgelehnt. Dieses kann sich zeigen in:

  • Klagen über die Krankheit
  • Hass auf den Körper
  • Katastrophisieren – „Das ist schrecklich, was mit mir passiert.“
  • Selbstmitleid
  • Verwendung von Metaphern
  • Lösungsorientierten Fragen

Ansätze der Psychotherapie

Ziel der Psychotherapie ist es genau diese Haltungen durch eine akzeptierende Einstellung zu ersetzen. Dafür konzentrieren wir uns auf verschiedene Bereiche:

  • Bewusstes Fokussieren auf das Gesprächsthema
  • Langsameres Vorgehen, das heißt klarer sprechen, kleinere Schritte der Problemlösung, häufige Wiederholungen, erhöhte Anzahl der Sitzungen
  • Multimodale Instruktionen, z. B. durch visuelle Veranschaulichung und Notizen durch den Patienten
  • Gedächtnishilfen, z. B. Sitzungen auf Tonband mitgeben, schriftliche Hausaufgaben, Mitgeben von Handouts
  • Strategien des Aufmerksamkeitserhalts, z. B. verkürzte Sitzungen oder Pausen einschieben
  • Einstellung zur Psychotherapie ggf. überprüfen, zum Beispiel „Nur verrückte Leute gehen zum Therapeuten“, „Ich werde passiv behandelt“
  • Unkonventionelle Settings wählen, zum Beispiel im Krankenhaus am Bett des Patienten, bei Hausbesuchen oder im Seniorenheim

Psychotherapeutische Elemente – Kognitive Restrukturierung

Eine kognitive Restrukturierung beschreibt eine gedankliche Veränderung und dient dem Aufbau der Akzeptanz der Krankheit. Ausgangspunkt ist die Identifikation des Aspekts der Krankheit, des Symptoms, des veränderten Körperteils oder der Begrenzung, die dem Patienten zu schaffen macht. Beispiele hierfür, wie sie mit einem Patienten erarbeitet und von ihm trainiert werden können, sind:

  • Ich habe keinen schlechten Körper, sondern einen anderen als bisher.
  • Ich mag das nicht, aber ich kann das aushalten.
  • Ich richte meine Aufmerksamkeit auf das, was in der Situation angenehm ist.
  • Ich schenke den Stärken meines Körpers jetzt mehr Beachtung als den Schwächen
  • Ich genieße jetzt die Freunde und meine Familie um mich herum.
  • Ich belaste meinen Körper nicht mit Anforderungen, die er nicht tragen kann. Das wird mich nur frustrieren.
  • Ich mache das, was ich kann, nicht das, was ich nicht kann.
  • Ich danke meinem Körper dafür, dass er sich so bemüht und einiges schafft

Psychotherapeutische Elemente – Lösungsorientierte Kurzzeittherapie

Die lösungsorientierte Kurzzeittherapie bietet einige Fragetechniken an, um den Fokus von den Einschränkungen auf die Möglichkeiten des Patienten zu richten. Dadurch kann eine akzeptierende Einstellung gegenüber der Krankheit und des Leidens unterstützt werden. Fragen nach Ressourcen helfen, Lebensbereiche aufzudecken, mit denen der Betroffene zufrieden ist oder in denen er sich kompetent fühlt, zum Beispiel:

  • Was machen Sie gerne?
  • Was müssten Sie tun, um mehr davon zu machen?
  • Wie haben Sie es geschafft, in gewissen Zeiten das Problem nicht auftreten zu lassen?

Psychotherapeutische Elemente – Die Wunderfrage 

Der Patient wird aufgefordert, die eigenen Ressourcen stärker zu nutzen oder mehr von den Dingen zu tun, die das eigene Leben bereichern. Fällt einem Patienten keine Ausnahme ein („Alles ist furchtbar“), kann noch ein Wunder helfen.

Mit der Wunderfrage erkundigt sich der Therapeut, was der Patient nach einem vorangegangenen Wunder genau macht. Dies sind häufig, schlichte, aber angenehme Tätigkeiten, die er schon jetzt in Ausnahmen macht. Eine daran sich anschließende Behandlung könnte sein, sich für einen bestimmten Zeitraum einmal so zu verhalten, als sei das Wunder bereits passiert, zum Beispiel für 15 Minuten am Tag. Beispiele für so ein Wunder wären Tätigkeiten im Garten, Angeln oder ohne Schmerzen zu gehen.

Psychotherapeutische Elemente – Die Imaginationsübung

Die Imaginationsübungen eignen sich dazu, eine akzeptierende Haltung zu eigenen Einschränkungen aufzubauen. Diese können innerhalb der Therapiesitzung vom Therapeuten eingeleitet, aber auch zwischen den Sitzungen vom Patienten selbst eingeübt werden. Zum Beispiel:

  • Stürmisches Wasser prallt gegen eine Wand mit einem geschlossenen Tor in der Mitte. Das stürmische Wasser steht für die Ablehnung und Hass der Krankheit und der Symptome. Dann öffnet sich das Tor und das Wasser strömt heftig hinein, sodass alles innerhalb der Wand bedroht ist, überflutet zu werden. Das steht für den ersten Schock, als sie realisierten, dass Leiden zu einem Teil ihres Lebens wird und wie sehr es ihr Leben dominiert.
  • Nach ein paar Minuten wird das Wasser aber ruhiger und es breitet sich aus. Das ruhige Wasser symbolisiert, dass sie das Leiden akzeptieren und bereit sind diese Aufgabe anzunehmen. Das Wasser wird in diesem Moment vom Land aufgenommen und nicht mehr bemerkt.

Psychotherapeutische Elemente – Behandlung der Fallangst

Die Angst hinzufallen ist bei fast der Hälfte der älteren Menschen vorhanden. Da Fallangst einen älteren Menschen in einen Teufelskreis von Verlust an Selbstvertrauen, Aufgabe körperlicher und sozialer Aktivitäten, körperlicher Gebrechlichkeit und Verlust der Unabhängigkeit bringt, handelt es sich um eine ernstzunehmende Angststörung. Sicher spielen hierfür der altersbedingte körperliche Abbau, das Erleben von Hinfallen und das Vermeidungsverhalten eine Rolle.

Durch eine

  • kognitive Umstrukturierung
  • den Aufbau angemessener Aktivitäten
  • die Modifikation der Umwelt und
  • körperliche Übungen

kann dieser Angst entgegen gewirkt werden.

Fallangstpatienten weisen mehrere hinderliche Überzeugungen auf. Das Risiko zu fallen wird überschätzt, das Fallen als unkontrollierbar beurteilt und die Folgen werden katastrophisiert. Derartige Gedanken werden identifiziert und ihre negativen Folgen auf Gefühle und Verhalten analysiert. Das Ziel ist hilfreiche und realistische Gedanken gezielt zu üben, die zu angemessenen körperlichen und sozialen Verhalten ermutigen.

Riskantes Verhalten, das die Wahrscheinlichkeit zu Fallen erhöht, wird identifiziert und sichere Verhaltensweisen in entsprechenden Situationen geübt. Dabei ist es wichtig realistische Ziele zu setzen, um den Patienten nicht zu überfordern. Im Zusammenhang mit der Planung von angenehmen Aktivitäten ist es in den meisten Fällen notwendig, selbsthinderliche Gedanken durch ermutigende zu ersetzen.

Hilfe vor Ort und nicht nur durch Worte

Gemeinsam werden die Gefahrenstellen in der Wohnung und der Umgebung des Patienten identifiziert. Dabei ist das Ziel, einfache Lösungen zu finden, um die Umwelt sicherer zu machen. Dies kann auch der Gebrauch von Hilfsmitteln sein wie Stühle in der Dusche, Handgriffe und Gehhilfen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, Selbstsicherheit aufzubauen, da eine negative Bewertung durch andere befürchtet wird, wenn man zum Beispiel Gehhilfen in der Öffentlichkeit benutzt.

Um die Muskelkraft und Balance zu steigern, wird der Patient dazu angeleitet, körperliche Übungen durchzuführen. Zum Motivationsaufbau werden die Konsequenzen körperlicher Inaktivität sowie die Notwendigkeit körperlicher Aktivität zur Fallprävention erarbeitet. Einfache körperliche Übungen können vom Psychotherapeuten angeleitet werden, eine Zusammenarbeit mit lokalen Seniorensportgruppen ist aber nötig.

Behandlung der Depression im Alter

Ein Störungsmodell der Altersdepression kann leicht durch altersspezifische Faktoren vermehrt werden, die auf die Entwicklung oder Ausprägung einer Depression wirken. Dazu gehören körperliche Erkrankungen, kognitiver Abbau und Lebensereignisse, Berentung, Tod nahestehender Personen und der Übergang ins Seniorenwohnheim. In Folge dieser altersspezifischen Veränderungen können unter Umständen psychische Beeinträchtigungen, lebensverneinende Tendenzen und Depressionen entstehen:

  • Wenn es der betreffenden Person nicht gelingt, neue und veränderte Ziele zu entwickeln.
  • Wenn es ihr nicht gelingt, eine Selektion an Lebensbereichen, Ansprüchen und Handlungsbereichen vorzunehmen.
  • Wenn es ihr an kompensatorischen Fertigkeiten und Ressourcen fehlt.
  • Wenn sie durch eine reduzierte, verarmte, wenig unterstützende Umwelt nicht zur optimalen Nutzung, Stärkung und Neuentwicklung von Fähigkeiten und Lebensbereichen in der Lage ist.

Gegen die Depression im Alter kann man etwas tun. Individuell und auf den Patienten zugeschnitten:

  • Psychoedukation (z. B. Depressionsspirale)
  • Stimmungs-, Tages- und Wochenplan zur Selbstbeobachtung und Planung
  • Aufbau angenehmer Aktivitäten
  • Gedankenkontrolle, Einüben hilfreicher Gedanken, kognitive Umstrukturierung, soziale Kompetenz im Alter, alte Beziehungen gestalten, neue knüpfen
  • Krisen-, Notfallplan

Es sollte bedacht werden, dass es zum normalen Altern gehört, dass sich das soziale Netzwerk verkleinert und die wenigen sozialen Beziehungen größere emotionale Bedeutung erlangen. Daher geht es in der Therapie mit älteren Patienten häufig nicht um den Aufbau sozialer Kontakte, sondern um die Verbesserung und Intensivierung bestehenden Beziehungen.

Arzneimittelsicherheit im Alter

Die Gabe von Antipsychotika bei älteren Menschen mit psychischen Erkrankungen ist ein wichtiger Teil der Therapie. Sie ist jedoch auch mit einer höheren Rate unerwünschter Arzneimittelwirkungen verbunden. Die erhöhte Vulnerabilität durch verschiedene Risikofaktoren ist bedingt durch:

  • die veränderte Stoffwechsellage
  • den verzögerten Abbau
  • die Ausscheidung von Wirkstoffen
  • somatische Begleiterkrankungen (kardio- und cerebrovaskuläre Ereignisse (Herzerkrankungen und Gehirnerkrankungen, reduzierte Nieren- und Leberfunktion)
  • erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen

Die Auswahl erfolgt daher nach dem Nebenwirkungsprofil, insbesondere im Hinblick auf begleitende Medikamente bei vorliegender Mehrfacherkrankung. Ein besonderes Problem stellt das erhöhte Sturzrisiko dar, welches unter Arzneimittelgabe vorliegt.

Aufgrund der erhöhten Vulnerabilität gerontopsychiatrischer Patienten ist eine Beobachtung der Laborwerte mit Blutbild, Leberwerten, Nierenwerten und Urinstatus unerlässlich. Gegebenenfalls muss die begleitende internistische Medikation umgestellt werden, um das Risiko für Arzneimittelinteraktionen gering zu halten. Eventuell ist, aufgrund der Laborwerte, eine entsprechende Umstellung auf ein anderes Psychopharmakon erforderlich. Grundsätzlich sollte man bei älteren Menschen mit einer niedrigen Dosis einzusteigen, da die Verstoffwechselung der Pharmaka, anders als bei jüngeren Patienten, langsamer verläuft.