Am 18. Februar 1990 wählte die Mitgliederversammlung der Deutschen AIDS-Hilfe einen neuen Vorstand. Erstmalig hatten offen positiv lebende schwule Männer kandidiert. Eine persönliche Erinnerung
Wir waren nicht die ersten Vorstände der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH), die HIV-positiv waren, Hans Peter Hauschild, Helmut Ahrens und ich. Aber wir waren die ersten, die es schon bei der Bewerbung um das Amt öffentlich machten. Bei Ian Schäfer als einem unserer Vorgänger erfolgte die Offenlegung erst nach seinem Tod, andere warteten, bis sie aus dem Licht der Öffentlichkeit verschwunden waren. Offen positives Leben jenseits der Klientenrolle war nicht vorgesehen.
Offen positives Leben jenseits der Klientenrolle war nicht vorgesehen
Als ich mich zwei Jahre vorher dem DAH-Beirat als HIV-infizierter schwuler Mann vorstellte, nahm mich der Vorstandsvorsitzende Prof. Dieter Runze beiseite, um mich darüber zu belehren, dass dies Privatsache sei, nicht in die Öffentlichkeit gehöre und keine besondere Qualifikation darstelle. Mit letzterem hatte er recht.
In jener Sitzung stand der Antrag auf Ausschluss der AIDS-Hilfe Frankfurt auf der Tagesordnung, weil sie – wie übrigens auch mein Heimatverein, die AIDS-Hilfe Marburg – den HIV-Antikörpertest anbot und weil bekanntlich nicht die Viren, sondern das positive Testergebnis den Menschen mit HIV machten. Das war nicht gewünscht, wenn auch die Mehrheit der Mitarbeiter von Aidshilfen, wie wir aus den Untersuchungen von Michael Bochow wissen, schon sehr frühzeitig selbst getestet war.
Die Hessen standen vor der Frage, ob sie den Dachverband verlassen oder aber versuchen sollten, ihn zu verändern. Es fanden mehrere konspirative Treffen statt, mit dem Ergebnis, dass die drei oben erwähnten Männer in einer Blockkandidatur zur Mitgliederversammlung am 18. Februar 1990 in Wiesbaden antraten. „Alle drei oder keiner“ war unsere Devise, weil es uns um das Potenzial für Veränderungen ging. Ein Alibi-Positiver im Vorstand hätte es für uns nicht gebracht. Guido Vael trat mit Bauchgrimmen an, um im Vorstand das Schlimmste zu verhindern, Reinhard Heikamp, um die nordrhein-westfälischen Interessen zu vertreten. Die übrigen Kandidaten konnten die Versammlung nicht überzeugen.
„Alle drei oder keiner“ war unsere Devise
In unserer ersten Sitzung haben wir das Amt des Vorsitzenden abgeschafft (dieses aber, weil für das Vereinsregister erforderlich, durch Losverfahren zugeteilt und im Übrigen vor der Öffentlichkeit geheim gehalten). Danach haben wir uns in Klausur begeben und festgestellt, dass wir uns – bei allen Unterschieden – hinsichtlich des Arbeitsprogramms für die nächsten zwei Jahre einig waren. Der allgemein erwartete Eklat blieb aus.
Als Erstes hoben wir das an die DAH-Geschäftsstelle adressierte Verbot auf, Menschen mit HIV an die Medien zu vermitteln. Wir drängten ja an die Mikrofone und wollten die Bilder vom Leben mit HIV mitbestimmen. Es gab den Antrittsbesuch bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Hans-Peter im engsten Lederdress, Guido im Anzug, der Rest in Straßenkleidung – so versuchten wir, die Bandbreite schwulen Lebens auch sinnlich erfahrbar zu machen. Hans Peter entwickelte seine Vorstellungen von struktureller Prävention von der Infektionsvermeidung bis hin zum Lesen von Seelenmessen. Das befremdete zwar etwas, war im Grunde aber nichts anderes als die Ottawa-Charta, durchdekliniert für schwule Männer, Drogen gebrauchende Menschen und Migranten.
Wir drängten an die Mikrofone
Dann kam die Zeit der nicht abgestimmten Presseerklärungen von Helmut und Hans Peter. Die Bisexuellen wurden schnell vorübergehend als Hauptarbeitsbereich entdeckt, das „Haus der Trauer“ mit angrenzendem Park als Ort der Lust wurde gefordert.
Die anschließenden Vorstandssitzungen waren nicht ganz einfach. Aus Aidshilfen und der Bundesgeschäftsstelle gab es durchaus Widerstände. Und der Beirat fasste so grundlegende Beschlüsse wie: „Es ist nicht festzustellen ob der Vorstand die Leitlinien der Aidshilfe-Arbeit verlassen hat“ und wollte das auch noch in der Zeitschrift DAH aktuell veröffentlicht wissen.
Wir haben mit tatkräftiger Unterstützung des Schwulenreferenten Rainer Schilling die Bilder verändert. Wir waren eine Provokation für jeden, der behauptete, ein offenes Leben mit HIV sei nicht möglich, und in unserer Zusammenarbeit lebten wir vor, dass es nicht darauf ankam, wer denn nun infiziert war.
Wir waren Männer, die etwas verändern wollten
Für uns war die Nähe zum Thema entscheidend. Die hatten wir alle fünf. Wir waren keine Quotenmenschen, positiv, negativ oder ungetestet, sondern wir waren Männer, die etwas verändern wollten und sich – abgesegnet durch Wahlen – ihren Platz im Verband erarbeitet hatten.
Ich habe seitdem nicht die Erfahrung gemacht, dass HIV-infizierte Menschen in Aidshilfen von der Mitarbeit oder der Übernahme von Verantwortung ausgeschlossen worden wären. Ich bin daher kein Anhänger von Quoten, die sich an Blutwerten festmachen. Die positive Identität habe ich immer schon für einen Mythos derjenigen gehalten, denen andere Lebensinhalte fehlen. Die Aidshilfen sehe ich heute auf einem Weg, der mir das aidspolitische Rentnerdasein leicht macht.
Bernd Aretz