„Photovoice“: Sexarbeiterinnen der Berliner Kurfürstenstraße erzählen mit Fotos und Texten ihre Geschichte.
Sie kommen aus fünf verschiedenen Ländern und sprechen unterschiedliche Sprachen. Manche der Frauen können weder lesen noch schreiben. Manche glauben, dass sie weder eine eigene Stimme haben, noch, dass es irgendjemanden geben könnte, der ihre Geschichte hören möchte.
Dass am Ende dieses zehnmonatigen Projekts nun eine eindrucksvolle Ausstellung und ein nicht minder bemerkenswertes Buch stehen würden, haben sich einige der Teilnehmerinnen zu Beginn sicherlich kaum vorstellen können. Vor allem, dass die Bilder und Texte nicht nur von ihrem Leben und Alltag als Sexarbeiterinnen an der Berliner Kurfürstenstraße erzählen, sondern dass diese Fotografien und eindrücklichen autobiografischen Momentaufnahmen von ihnen selbst fotografiert und formuliert worden sind.
Persönliche Sichtweisen der Sexarbeiterinnen auf ihre Lebens- und Arbeitswelt
Ab 1. April ist das Gesamtkunstwert „Photovoice“ nun im Rathaus Berlin-Tiergarten zu sehen. Außerdem kann der Katalog zur Ausstellung online als PDF-Dokument abgerufen werden.
Initiiert wurde das Projekt vom Frauentreff Olga, einer Einrichtung des Berliner Notdienstes für Suchtmittelgefährdete und -abhängige, die sich direkt am Straßenstrich der Kurfürstenstraße befindet.
„Es ging uns vor allem darum, den Frauen eine Plattform zu bieten, um sich auszutauschen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre persönliche Sichtweise, ihre Wünsche und Ängste bezüglich ihrer Lebens- und Arbeitswelt rund um die Kurfürstenstraße zu artikulieren“, heißt es im Vorwort dieser Publikation.
Darin ist beispielsweise auch die Geschichte von Natascha zu lesen. Sie berichtet von der einschneidenden Begegnung mit einer Sozialarbeiterin, die ihr half, vom Straßenstrich wegzukommen, neue Prioritäten im Leben zu setzen und mithilfe von Substitution und psychosozialer Betreuung einen neuen Weg mit neuen Zielen einzuschlagen.
Nataschas Text ist so zu einer Hommage an jene, inzwischen verstorbene, Sozialarbeiterin geworden, der sie letztlich mit zu verdanken hat, dass sie bald einen Berufsabschluss in der Tasche haben wird. „Sicher war das bisher eine Menge eigener Arbeit“, schreibt Natascha, „aber letztendlich hat sie den Grundstein zum Umdenken gelegt und manchmal denke ich, ich muss es schon alleine deshalb schaffen, um es ihr zu zeigen und ihr auf diese Weise zu danken“.
Olga: Treffpunkt und Ort der Sicherheit
Anna hat ihre Beine fotografiert und erklärt in ihrem Text, warum sie inzwischen nur noch flaches Schuhwerk trägt. Denn mit hochhackigen Schuhen tun ihr viel zu schnell die Füße weh. „Wenn ich an der Straße lange warten muss, ist das sehr anstrengend, zu anstrengend.“
Der Frauentreff Olga ist für Anna nicht nur ein Ort, um zwischendurch mal die Beine hochzulegen. Sie hat hier in Notsituationen auch schon Verpflegung bekommen und über alles reden, duschen und schlafen können.
Piroska hat eines der Betten im Frauentreff fotografiert. Ein anderes, ein eigenes Bett hat sie nicht. „Ich hatte noch nie eine eigene Wohnung in Berlin“, schreibt die Ungarin. „Wenn du Geld hast, dann ist es nicht schwer, du kannst dir eine Pension leisten und hast alles. Aber sobald das Geld alle ist, wird es sehr anstrengend.“
Seit rund acht Jahren lebt sie in Deutschland, und seit dieser Zeit schläft sie immer wieder im Olga. „Ich kann mich tagsüber hier ausruhen, um die Nacht zu überstehen, denn da muss ich Geld verdienen.“ Auch ein weiteres Bild von ihr zeigt ein Bett. Es steht im Schaufenster eines der Einrichtungshäuser am Straßenstrich. Wie viele ihrer Kolleginnen schaut sich Piroska die hier ausgestellten Möbel an und stellt sich vor, sie stünden bei ihr zu Hause: „Niemand dürfte mit Schuhen in meine Wohnung und auf meinem schönen Teppich gehen.“
Der Traum vom eigenen Bett
Aber eine eigene Wohnung, ein eigenes Bett in Berlin ist gar nicht ihr Ziel. „Ich fühle mich hier sowieso fremd“, schreibt Piroska. Sie träumt davon, nach Ungarn zurückkehren zu können, „nach Hause, zu meiner Familie, zu meinen Kindern“, und dort mit ihnen in einem Bett zu schlafen.
Einige der 14 Frauen, die sich an dem Projekt beteiligten, zogen ganz eigenständig mit dem Fotoapparat los, um ihre Welt durch das Kameraobjektiv zu betrachten und einzufangen. Anderen half die Fotografin Kathrin Tschirner bei der Umsetzung. Auch die Texte entstanden auf ganz verschiedene Weise.
Manche der Frauen formulierten sie selbst, andere wurden dabei unterstützt, die zunächst im Gruppengespräch ausgetauschten Erlebnisse und Erfahrungen zu Papier zu bringen. Sie geben offenherzig Einblicke in ihr Gefühlsleben und schildern – mal nüchtern und sachlich, mal berührend – die Lebensumstände als Trans*-Frau, Mutter oder Migrantin, als Drogenabhängige oder Gestrandete in der Straßenprostitution.
Halt im Glauben
Die aus Bulgarien stammende Ivanka hat eine Episode zu Protokoll gegeben, die ihr Leben maßgeblich verändert hat. Ihr wurde in Stuttgart eine Bibel in bulgarischer Sprache geschenkt, auf diese Weise hat Ivanka ihren Weg zum Glauben gefunden. „Die Bibel habe ich leider in Berlin verloren, als ich aus einem Hotel geflogen bin, aber den Glauben habe ich behalten.“
Auch Stella gibt der Glaube die Kraft, den Tag zu überstehen. „Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, bete ich zu Gott. Ich bete, dass ich genug Geld verdienen werde, um etwas nach Hause zu meiner Familie schicken zu können. Ich bete, dass ich nicht verprügelt oder vergewaltigt werde, dass ich Kunden bekomme, die ein Kondom benutzen wollen und dafür, dass ich die Kraft finde, am nächsten Tag wieder aufzustehen.“
Die Ausstellung „Photovoice“ ist vom 1. bis 30. April im Rathaus Berlin-Tiergarten, Mathilde-Jacob-Platz 1 zu sehen. Die Eröffnung findet am 1. April um 15 Uhr statt. Um Anmeldung (E-Mail an olga@notdienstberlin.de) wird gebeten.
Der Ausstellungskatolog ist als PDF-Dokument online verfügbar.