Auf der Fachtagung „HIV-KONTROVERS“ wurde im Februar die Frage diskutiert, welche Rolle genderspezifische Unterschiede in der Versorgung von Menschen mit HIV spielen sollten. Heraus kam: Wo keine Forschung, da auch keine Antwort.
„Frauen sind anders! Oder was soll das ganze Gedöns mit den Frauen?“, so der Titel einer der acht Diskussionseinheiten auf der Fachtagung „HIV-KONTROVERS“ in Düsseldorf. Die provokante Fragestellung gehört zum Konzept der Veranstaltung, die dieses Jahr zum vierten Mal stattfindet: Zwei Diskutanten stehen sich gegenüber, ganz bewusst vertreten sie gegensätzliche Positionen – egal, ob sie nun wirklich dieser Meinung sind oder ob sie in eine andere Rolle schlüpfen.
Als Kontrahenten in der „Frauen-Frage“ haben die Veranstalter, die AIDS-Hilfe NRW und die Deutsche AIDS-Gesellschaft (DAIG), zwei Fachärzte aufs Podium gerufen: Dr. Katja Römer behandelt in ihrer Praxis in Köln seit 15 Jahren Menschen mit HIV. Dr. Björn Jensen arbeitet als Oberarzt an der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Infektiologie der Uniklinik Düsseldorf.
Der Patient als Gesamtheit
So richtig kontrovers geht es bei dieser Diskussion nicht zur Sache, denn im Grunde sind sich auf dem Podium wie im Saal alle einig: Frauen und Männer unterscheiden sich – sowohl biologisch als auch in Bezug auf psychosoziale Aspekte. Daran will niemand rütteln.
Dr. Jensen weist mehr als einmal lachend darauf hin, dass er ja eigentlich die Position einnehmen sollte, dass es keine wesentlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen gebe. Aber auch er muss zugeben, „dass es sicherlich Aspekte gibt, die sehr weiblich sind“. So nennt der Internist zum Beispiel Therapieunterbrechungen oder Depressionen, die bei Männern seltener vorkämen als bei Frauen. „Aber für den einzelnen Mann, der depressiv ist, ist es durchaus das Gleiche“, gibt Jensen zu bedenken und mahnt, dass man sich den Patienten als Gesamtheit angucken solle. „Da ist Frausein ein ganz wichtiger Faktor, aber es ist ein Faktor von vielen. Ich muss das Gespräch auf diejenige Person anpassen, die vor mir sitzt.“
„Ich möchte wissen, wie die Frau lebt, danach wähle ich auch die Therapie aus“
Aber genau das geschehe bei Frauen oft nicht, weshalb sie dann nicht optimal versorgt werden, beklagt die Gegenspielerin Dr. Römer. Ihre Kollegen würden die Unterschiede selten beachten. „Das Fachwissen bringen sie alle mit“, so die Kölner Ärztin, „aber das Bewusstsein fehlt leider häufig“.
Um die bestmögliche Therapie zu wählen, müssten Ärzte auch im Hinblick auf weibliche Aspekte eine Anamnese aufnehmen und Frauen zum Beispiel nach dem Thema Verhütung fragen – HIV-Medikamente können mit hormonellen Verhütungsmitteln Wechselwirkungen verursachen –, nach der Familiensituation oder einem eventuellen Kinderwunsch. „Ich möchte wissen, wie die Frau lebt, danach wähle ich auch die Therapie aus“, berichtet Römer aus ihrer Praxis.
Bei der Behandlung an sich dagegen gebe es heute keine entscheidenden Unterschiede mehr. „Es gibt keine Studien, die besagen, dass bei gleicher Therapie der Krankheitsverlauf anders, die Mortalitätsrate höher oder der Therapieverlauf gravierend schlechter ist“, sagt Römer.
So gut wie keine genderspezifischen Studien
Nur können wir es ja auch nicht besser wissen, kommt als Einwand vom Publikum: „Genderspezifische Studien gibt es so gut wie überhaupt nicht“, meldet sich Ulrike Sonnenberg-Schwan von „All Around Woman Special“, der Sektion zu Frauen und HIV in der DAIG, zu Wort. „Die meisten Ergebnisse sind Produkte aus Subanalysen“. Solche Studien könne sie nicht als Beleg dafür akzeptieren, dass es keine Unterschiede gebe. Auch der Arzt Heiko Jessen bricht eine Lanze für mehr Studien zu frauenspezifischen Aspekten. „Dass sie kompliziert und aufwendig sind, zählt nicht“, so der Berliner, „das ist mir als Ausrede zu wenig“.
Alles bloß Ausrede? Die beiden Fachärzte auf dem Podium geben eindrücklich wieder, worin der hier angesprochene Aufwand besteht: „Kein Kollege, der bei Verstand ist, bringt in eine Studie Fälle ein, von denen er weiß, dass es Komplikationen wie eine ungewollte Schwangerschaft geben kann“, erklärt Jensen. Und seine Kollegin ergänzt, dass es schwierig sei, Frauen überhaupt für solche Studien zu gewinnen. „Die Einschlusskriterien sind harsch, es müssen extrem viele Termine eingehalten werden“, erklärt Römer. Die Studienteilnehmerinnen und zumeist auch ihre Partner müssten unterschreiben, dass sie verhüten. Für Katja Römer eine von vielen hohen Hürden der Forschung: „Wie kriegt man die Leute dazu, sich für solche Studien zur Verfügung zu stellen?“
Ohne Aufwand kein Wissen
„Es ist fatal, dass die Zugänge zu den Studien so strikt sind“, meldet sich auch die Kölner Journalistin Harriet Langanke aus dem Publikum, „das muss man ändern, sonst stochern wir im Nebel. Dann haben wir Meinung statt Wissen“.
Eine Lösung sieht Jensen in den Kohortenstudien. Das Problem an solchen Analysen bestehender großer Datensätze sei aber, dass sie qualitativ nie so sein können wie vorausschauend geplante Untersuchungen. „Man kann in einer Kohortenstudie nie alle Faktoren abdecken.“ Seine Kölner Kollegin schlägt daher vor, geeignete Frauen für Forschungsprojekte über die bestehenden Netzwerke zu gewinnen. „Das kostet viel Zeit und ist extrem aufwendig, funktioniert aber am Ende.“
Von Frauke Oppenberg
„Ich habe nie daran gedacht, dass es HIV sein könnte“ (Frauen und HIV 1, erschienen am 6. März 2015)
„Wir müssen Frauen mit HIV stärken“ (Frauen und HIV 2, erschienen am 7. März 2015)
„Das sind meist einfach nur Frauen, die ein Kind kriegen“ (Frauen und HIV 3, erschienen am 8. März 2015)
„Ängstlich gekommen und großartig beschenkt nach Hause gefahren“ (Frauen und HIV 4, erschienen am 10. März 2015)