Im März 1990 stellte der neu gewählte Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) seine Arbeitsgrundlage vor und erhob die „strukturelle Prävention“ zum theoretischen Gesamtkonzept der DAH. Bernd Aretz, damals Vorstandsmitglied, erinnert sich:
Glaubt man’s denn? Da fiel mir doch gerade der Name dieser merkwürdigen Prävention nicht ein. Ich musste erst im DAH-Magazin „aktuell“ vom April/Mai 1990 nachsehen, um das Wort „strukturell“ zu erinnern.
Ich denke hier immer in den Begriffen der Ottawa Charta. Die ist sprachlich einfach schöner und denkt auf der Metaebene nach. Sie wurde 1986 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlicht und beschreibt in lesens- und bedenkenswerten Worten das, was gesundheitliche Basisversorgung sein sollte. Man kann es nicht oft genug wiederholen:
Förderung eines umfassenden Wohlbefindens
„Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl Einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur beim Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin.
[…] Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Jede Verbesserung des Gesundheitszustandes ist zwangsläufig fest an diese Grundvoraussetzungen gebunden.“
Wer es kürzer haben möchte, schaue in unser Grundgesetz, wo es im Artikel 1
(1) heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
„Konkretes Handeln für Randgruppen unter dem gemeinsamen Stigma HIV“
Das alles ist zugleich das Glaubensbekenntnis der strukturellen Prävention, welche die Ottawa Charta auf konkretes Handeln für gesellschaftliche Randgruppen unter dem gemeinsamen Stigma HIV herunterbricht. Die darin formulierte Grundhaltung ist ein möglicher Baustein für ein Leitbild einer im HIV-Bereich tätigen Einrichtung und eine dringliche Aufforderung an alle Aidshilfen. Es geht um Fachlichkeit und Partizipation, aber auch um Parteilichkeit. Aidshilfe sollte möglichst Teil der Subkulturen sein.
Dass das nicht nur auf Gegenliebe stieß, vermutete schon Klaus Lucas in der Ausgabe August 1990 des einstigen Schwulenmagazins Magnus: „Das Reden über Aids, das alle gleichermaßen betrifft, kann im Rahmen einer – tatsächlich – strukturellen Prävention aufgegeben werden zugunsten einer wirklichen Betroffenenarbeit. Wieweit sich dieses Konzept allerdings wirklich durchsetzen lässt, hängt von vielen Faktoren ab, die beispielsweise in der Akzeptanz bei lokalen Aidshilfen liegen könnten. Auch der Anspruch der DAH, sich als „treibende Kraft“ sozialer Bewegungen zu etablieren, wird in den Subkulturen, besonders bei den Schwulen, Anlass zu vermutlich kontroversen Auseinandersetzungen geben.“
„Den durch Aids verursachten Beschädigungen entgegenwirken“
Es gab Auseinandersetzungen mit einzelnen Aidshilfen. Mit historischem Abstand sehe ich den Versuch, die Beratungsmarke „Aidshilfe“ zu begründen, und sachte Anfänge, die Arbeit der Vereine im DAH-Verband vergleichbar zu machen. Tatsächlich hatten wir nur einen Ausschnitt im Blick, nämlich den durch Aids verursachten Beschädigungen des Individuums entgegenzuwirken. In der öffentlichen Wahrnehmung betraf Aids Huren und Stricher, Junkies und Schwule, Häftlinge und Migranten, die – bis auf die Schwulen – im gesellschaftlichen Diskurs nicht mitzureden hatten.
Ich mag das ja eigentlich nicht, wenn Menschen durch die Benennung auf eine einzige Facette ihrer Persönlichkeit zurechtgestutzt werden. Aber es waren die Stigmata, die uns zusammenführten. Wir hatten das gemeinsame Interesse, die Aidspolitik zu verändern. Dazu gehörte natürlich die Forderung nach Abschaffung des § 175, nach einer anderen Drogenpolitik und nach Schaffung eines rechtlichen Rahmens für Prostitution als Dienstleistung. Es war gut, sagen zu können: „Wir sind diejenigen, über die ihr redet. Ihr wollt in unsere Lebensbereiche eingreifen, Saunen schließen, munter zwangstesten und eine angemessene Versorgung suchtkranker Menschen verhindern. Das dürft ihr nicht.“
„Von Moralisten angefeindete Orte der Vergesellschaftung“
Das Besondere an den Szenen war und ist, dass sie von Moralisten angefeindete Orte der Vergesellschaftung haben – sei es der schwule Kiez, das Rotlichtviertel oder das Milieu des Drogenhandels und -konsums – und dass die ihnen Zugehörigen überwiegend gesellschaftliche Underdogs sind. Bei den gleichgeschlechtlich Liebenden hat sich das scheinbar geändert, aber die Homoheiler aus evangelikalen Kreisen treiben immer noch ihr Unwesen, und die besorgten Eltern, die gegen Kitas und Grundschulen demonstrieren, weil ihre behüteten Schätzchen dort erfahren könnten, dass es mehr als nur Heterosexuelle gibt, sind nicht unsere Verbündeten.
Auch beim Umgang mit Drogen gebrauchenden Menschen könnte man meinen, die Forderungen von ehedem seien doch erfüllt. Anlaufstellen, Druckräume, Substitution bis hin zur Diamorphinvergabe und ein reichhaltiges Beratungsangebot prägten doch heute das Bild. Aber es wird kriminalisiert, in den Haftanstalten gibt es keine sauberen Spritzen, mancherorts wird dort auch eine Substitutionsbehandlung verweigert, und es gibt noch nicht einmal auf unproblematischem Wege THC als Medizin für Moribunde.
„Abgearbeitet ist die Liste von 1990 offensichtlich noch nicht“
Für die Menschen in der Sexarbeit gibt es inzwischen ein Prostitutionsgesetz, aber gegen den Rat aller Fachleute vom öffentlichen Gesundheitsdienst bis zu den Hurenverbänden will man wieder registrieren und kontrollieren. Partizipation hat es bei den Änderungsbestrebungen nicht gegeben.
Abgearbeitet ist die Liste von 1990 offensichtlich noch nicht. Es handelt sich schließlich nicht um ein Werk, sondern um einen fortdauernden Prozess. Die strukturelle Prävention ist getragen von der Grundüberzeugung, dass die sozialen Orte erhalten bleiben müssen und die Szenen so weit zu stützen sind, dass Krankheiten vermieden und, falls sie doch eintreten, ordentlich begleitet werden können und dass ein Sterben in Würde möglich ist. Sie setzt darauf, dass das Individuum durch Partizipation befähigt wird, eigenverantwortlich sein Leben zu gestalten.
PDF-Datei: Arbeitsgrundlage des Vorstands der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. (März 1990)