„Das ist eine reale Bedrohung“

Die bundesweit agierende Initiative „Besorgte Eltern“ protestiert gegen den modernen Sexualkundeunterricht an Schulen und entpuppt sich als homosexuellenfeindliche und antifeministische Bewegung. In Kassel formiert sich nun eine Gegenkundgebung, angeführt von der AIDS-Hilfe Kassel. 

„Werbung für sexuelle Vielfalt? Nein Danke“ und „Finger weg von unseren Kindern“ ist auf ihren Transparenten und Demoplakaten zu lesen. In mittlerweile monatlichem Turnus ruft die Bewegung „Besorgte Eltern“ seit 2014 zu Protestaktionen auf, quer durch die Republik. Allein in diesem Jahr sind bislang 13 solcher Demonstrationen angekündigt, so unter anderem am 25. April in der documenta-Stadt. Doch es formiert sich Widerstand. Unter dem Motto „Für Vielfalt und ein buntes Miteinander in Kassel“ hat ein breites Bündnis vom AStA der Universität, von pro familia und Parteien wie Die Linke, SPD und Bündnis 90/die Grünen bis zum CSD e. V. zu einer Gegenkundgebung aufgerufen.

Die Federführung dazu hat die Aidshilfe Kassel. Der 21-jährige Tarek Shukrallah, Projektkoordinator für Schwule, Bisexuelle und andere MSM in der AIDS-Hilfe Marburg e.V., beteiligt sich auch an den Mobilisierungen. Was die Bewegung „Besorgte Eltern“ antreibt und weshalb dem Aufruf der AIDS-Hilfe Kassel e.V. Folge geleistet werden sollte, den Homohassern Einhalt zu bieten, erklärt er im Gespräch mit magazin.hiv.

Tarek, dass sich Eltern um das Wohlergehen ihrer Kinder sorgen, ist grundsätzlich ja etwas Positives. Was macht die „Besorgten Eltern“ so suspekt?

Wenn man die Leitprinzipien der „Besorgten Eltern“ und ähnlicher Gruppierungen anschaut, werden immer wieder die Gefahren einer „Frühsexualisierung der Kinder“ in Kitas und an Schulen genannt. Kinder würden die perversen Sexualpraktiken von Schwulen und Lesben nahegebracht und zur Onanie angeleitet. Folge sei der gezielte Abbau von Schamgrenzen. Außerdem würden die Kinder durch eine beliebige Sexualpraxis bindungsunfähig, wodurch das Fundament der Ehe zerstört werde. Entscheidend dabei ist, dass immer auf Artikel 6 des Grundgesetzes Bezug genommen wird…

… der den Schutz der Ehe garantiert.

Die „Besorgten Eltern“ befürchteten eine Zerschlagung der Familienstrukturen und ihrer Privilegien. Das heißt im Klartext: Sie wenden sich gegen die Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt wie auch gegen die kritische Geschlechterforschung, die von dieser Bewegung als „Gender-Ideologie“ und „staatliche Umerziehung“ gesehen wird. Ihnen geht es vor allem darum, dass die lesbische und schwule Lebensrealität und Sexualität in den Lehrplänen nicht vorkommt.

Sexuelle Vielfalt als Horrorszenario

Die Bewegung, scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht, hat sich mittlerweile im ganzen Bundesgebiet ausgebreitet.

Ihren Anfang genommen hat sie 2013 in Baden-Württemberg im Zuge der geplanten Änderungen des Bildungsplans. Gabriel Stängle, ein Realschullehrer, hatte sich mit seiner Petition „Zukunft – Verantwortung – Lernen. Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ gegen die neuen Leitprinzipien des Bildungsplans ausgesprochen. Diese sollten – neben der beruflichen Orientierung, der Medienbildung, Prävention und Gesundheitsförderung – auch um einen Absatz zur sexuellen Vielfalt ergänzt werden.

Diese Petition haben damals innerhalb von vier Wochen fast 200.000 Menschen unterzeichnet.

Diese Unterstützerzahl war erstaunlich und beängstigend, ebenso die vielen Teilnehmer bei den Demonstrationen, zu denen dann die neu gegründete Initiative „Besorgte Eltern“ aufrief. Vorbild dafür waren die Demonstrationen in Frankreich, die sich unter Motto „La Manif pour tous“ (zu Deutsch: „Die Demo für alle“, Anm.d.Red.) gegen sexuelle Vielfalt und die Gleichstellung von LGBTIQ (Anm.d.Red.: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*-Menschen, Intersexuelle und Queer) wendeten. Auch in Deutschland gibt es mittlerweile „Demos für alle“, bei denen gegen die schulische Aufklärung über sexuelle Vielfalt demonstriert wird, wie etwa im März in Stuttgart.

Wer steckt hinter diesen Protesten?

Sowohl „Besorgte Eltern“ wie auch „DEMO FÜR ALLE“ und PEGIDA werden von dem neurechten Magazin „Compact“ und dessen Chefredakteur und Verleger Jürgen Elsässer unterstützt. Eine zentrale Rolle bei diesen neurechten Bündnissen spielt zudem die Alternative für Deutschland (AfD), zum Beispiel durch die parteinahe „Initiative Familienschutz“ oder das „Netzwerk zivile Koalition“, hinter dem die AfD-Europa-Abgeordnete Beatrix von Storch steht, die immer wieder durch homophobe und antifeministische Äußerungen auffällt.

Verbindungen zu PEGIDA, Compact, AfD und Initiative Familienschutz

Weshalb muss man sich gegen die „Besorgten Eltern“ engagieren?

Die „Besorgten Eltern“ lassen sich meiner Ansicht nach nicht von der DEMO FÜR ALLE, der rechtsextremen Partei „Pro Deutschland“, der rechtspopulistischen „Alternative für Deutschland“ und ähnlichen Organisationen trennen. Zusammenhänge sind auf personeller wie auch struktureller Ebene zweifelsfrei erkennbar. Erschreckend ist dabei vor allem, dass sie mit ihrem neurechten Gedankengut bis in die Mitte der Gesellschaft gelangt sind. Deren neues Feindbild sind LGBTIQ. Sie werden zu Sündenböcken stilisiert und dämonisiert, und ihnen werden die Rechte abgesprochen.

Die „Besorgten Eltern“ sehen sich als Verteidiger eines – wie sie es formulieren – „gesunden“ und „natürlichen“ Familienbildes und knüpfen damit eindeutig an sozialdarwinistisch anmutende Theorien an. Alles, was gegen die klassische heterosexuelle Norm verstößt, verstößt in ihren Augen gegen den gesunden Menschenverstand und damit gegen die im Artikel 1 des Grundgesetzes garantierte Würde des Menschen.

Künstlich geschürte Ängste

Was hat dich persönlich dazu bewogen, dich an der Mobilisierung gegen die „Besorgten Eltern“ zu beteiligen?

Bewegungen wie die „Besorgten Eltern“ verstehen es sehr geschickt, ihre weitreichende Ideologie zu verschleiern und künstlich geschürte Ängste wie die vor der Frühsexualisierung in die breite Gesellschaft hineinzutragen. Das finde ich dramatisch gefährlich. Dass die Bewegung bis in die Mitte der Gesellschaft hinein Anhänger findet, ist für mich ein Beweis dafür, dass LGBT und andere, nicht nach der heterosexuellen Norm Lebende immer noch strukturell diskriminiert sind – allen gesellschaftlichen Fortschritten zum Trotz. Die „Besorgten Eltern“ sind besorgniserregend, ihr Gedankengut transportiert meiner Ansicht nach implizit die Vernichtung jeglicher Emanzipation und allen Fortschritts in punkto sexuelle Selbstbestimmung. Das ist eine reale Bedrohung.

Tarek Shukrallah (Foto: privat)

Tarek Shukrallah (Foto: privat)

Die Gegenkundgebung wird maßgeblich von den mittelhessischen Aidshilfen getragen. Warum sollten sich Aidshilfen auch im Rest der Republik gegen die „Besorgten Eltern“ engagieren?

Zu den Hauptaufgaben der Aidshilfen gehören ja nicht nur Bildungsarbeit, Aufklärung und Beratung zu HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen, sondern auch die Verbesserung der Lebensbedingungen – gerade auch von Schwulen, Bisexuellen und anderen MSM. Es ist also von vitaler Notwendigkeit, für sie einzutreten und sie zu verteidigen. Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich in diesem Bereich arbeite: Es geht darum, Schutzräume und Strukturen zu stärken und zu schaffen, in denen eine aufgeklärte Begegnung möglich wird.

Ängste abbauen durch Bildungsarbeit zu sexueller Vielfalt

Und welche Rolle spielt hier der Sexualunterricht an den Schulen?

Jede Bildungsarbeit zu sexueller Vielfalt trägt dazu bei, Ängste abzubauen. Sie verhilft jungen LGBTIQ zu Selbstbewusstsein und einem emanzipierten Selbstverständnis und ihrem Umfeld zu einem selbstverständlichen und akzeptierenden Umgang mit Vielfalt. Sexuelle Vielfalt ist ohne Aufklärung noch nicht vorstellbar. Und wenn wir aufklären, dann auch über die Gefahren, die durch Gruppierungen wie die „Besorgten Eltern“ jenen Menschen drohen, die wir schützen, denen wir helfen und deren Strukturen wir stärken wollen.

Was erwartest du von den Aidshilfen?

Ich fände es wichtig und richtig, wenn sie bei den Protesten gegen solche Bewegungen eine Vorreiterrolle einnähmen. Wir können auf diesem Wege zeigen und gemeinsam erleben, wie bunt unsere Gesellschaft sein kann. Und deshalb sollten wir die Menschen mobilisieren, an den Gegendemos in Kassel wie in den anderen Städten teilzunehmen, um so den „Besorgen Eltern“ keine Chance zu geben, sich weiter auszubreiten.

Das Interview führte Axel Schock

Die Kundgebung „Für Vielfalt und ein buntes Miteinander in Kassel“ findet am 25. April, ab 13 Uhr auf der Südseite des Königsplatzes Kassel statt – parallel zur Demonstration der „Besorgten Eltern“ durch die Kassler Innenstadt und deren Abschlussveranstaltung auf der Nordseite des Platzes.

Die „Besorgten Eltern“ haben im Rahmen ihrer „Deutschlandtour 2015“ weitere Demonstrationen geplant, unter anderem am 13. Juni und 12. September in Hamburg, am 18. Juli in Berlin, am 22. August in Augsburg und am 24. Oktober erneut Kassel.