Nonna Lea ist 94 und lebt mit Mr. Robin in ihrer kleinen Wohnung in Rom mit spektakulärem Blick über das Forum. Niemals würde sie hier ausziehen… Nonna Lea alias Lea Ralli ist Dichterin, etwas gehbehindert, und verbringt, wenn sie nicht gerade aus dem Fenster schaut, viel Zeit am Computer. Jeden Tag schreibt sie an ihrem Blog, zu Versen geronnene Alltagsgeschichten und Lebensweisheiten. Sie ist ein wenig stolz darauf, dass sie, weil sie geistig fit ist, zusammen mit Altersgenossen in Spanien und Schweden das in Schweden entwickelte Versorgungsprogramm GiraffPlus testen kann. Das EU-finanzierte Projekt, hervorgegangen aus dem Forschungsrahmenprogramm FP7, ermöglicht es ihr, zuhause wohnen zu bleiben und am sozialen Leben teilzuhaben. Mr. Robin, ihr Roboter, hilft ihr dabei, indem er ihre Gesundheitsparameter ebenso erfasst wie ihre häusliche Umgebung, Haushaltsgeräte überwacht, offene Fenster meldet und ihren Kalender pflegt. Ihre physiologischen Messwerte werden an das Gesundheitszentrum übertragen. Regelmäßig kommuniziert Nonna Lea mit ihrem Dottore. Sie fühlt sich umsorgt und beschützt. Für das Versorgungsgeschehen bedeuten Pilotprojekte wie GiraffPlus, dass kleinere Teams deutlich mehr ältere Menschen betreuen können und verschiedene Leistungsanbieter sehr viel besser koordiniert werden.
Das Video über Nonna Leas Leben in den eigenen vier Wänden gibt den Auftakt des European Summit for Innovation on Active and Healthy Ageing, der am 9. und 10. März in Brüssel stattfand. Die Botschaft: Ob wir wollen oder nicht, so sieht – gute – Versorgung älterer und hochaltriger Menschen in der Zukunft aus. Besser, wir gestalten sie heute. Noch besser: die Lösungen kommen aus Europa, und wir bündeln unser Knowhow und Innovationspotenzial, um Synergien zu generieren und weltweit auf diesem Gebiet führend zu sein. Und am allerbesten: Die Silver Economy ist ein boomender Wirtschaftszweig.
Innovationspartnerschaften
Die Europäische Innovationspartnerschaft für Aktives und Gesundes Altern (EIP_AHA) wurde als Instrument der Innovation Union – Europe 2020 Initiative unter Kommissionspräsident José Barroso gegründet und verfolgt drei Ziele: Sie will erstens den Altersvorsprung der Europäischen Union durch gezielte Innovationsförderung zu einem globalen Wettbewerbsvorteil ummünzen; zweitens will sie älteren Mitbürgern so lange wie möglich eine gesundes und unabhängiges Leben zu Hause ermöglichen und drittens für eine nachhaltige Finanzierung von Gesundheits- und Sozialsystemen sorgen. Zur Erreichung des Triple Win versteht sich die Kommission als Plattform für Dialog und Förderung. Forscher, Erfinder und Start-Ups werden finanziell unterstützt: Innovationen sollen schnell zur Marktreife gelangen. Konkret wurden für das EIP_AHA sechs Aktionsgruppen ins Leben gerufen, in denen Akteure aus Industrie, Politik, Gesundheitswesen und Zivilgesellschaft gemeinsam an Fragestellungen arbeiten, häufig auf regionaler Ebene. Die Themen reichen von so praktischen Dingen wie digitale Erinnerungshilfen zur sicheren Medikamenteneinnahme und Sturzprävention über altersfreundliches Wohnen bis hin zu Modellen integrierter Versorgung.
Erstmals in diesem Jahr wurde der zweitägige Innovation Summit für ein breites Fachpublikum geöffnet.
Silver-Ager
Seit Monaten ist der Summit vollkommen ausgebucht. Viele der 1500 Teilnehmer sind auffallend jung – Durchschnittsalter Mitte-Ende dreißig. Die Atmosphäre ist heiter, beinah aufgekratzt, inspirierend. An den Ständen im Pioneer Village beobachte ich intensive Unterhaltungen zu technologischen Entwicklungen – von neuen AAL-Sensoren über Apps für gesunde Ernährung im Alter bis hin zu klinisch validierter Internetmedizin ist alles da. Nicht jeder kann hier präsentieren. Die Kommission hat das Heft in der Hand, überlässt nichts dem Zufall – Aussteller sind zwanzig handverlesene, aus EU-Förderprogrammen erfolgreich hervorgegangene Vorzeigeprojekte – darunter auch GiraffPlus.
„Das Leben beginnt mit 70“
Die Plenarsitzungen sind hochkarätig besetzt. Gleich mehrere Kommissare sind bei der Eröffnungsveranstaltung zugegen. Die Begrüßungsrede hält Günther Oettinger, EU-Kommissar für die digitale Wirtschaft. Kommissionspräsident Jean Claude Juncker wird die Innovationspartnerschaft fortsetzen, sichert er gleich zu Anfang zu. Es geht um viel. Gesundes Altern bei hoher Lebensqualität. 7.5 Mrd Euro für Forschung und Entwicklung in der Seniorenwirtschaft. Modernisierung der Alterssicherungs- und Krankenversicherungssysteme bei rückläufigen Erwerbstätigenzahlen. Rente mit 70. Migration und Mobilität – ein Muss. Digitale Inklusive einerseits, Gefahr einer Spaltung analog-digital andererseits. Oettinger spricht auf Deutsch, klingt gestanzt, übt sich noch ein in sein Amt.
Ganz anders Carlos Moedas, der 44-jährige EU-Innovationskommissar aus Portugal. Sein Optimismus ist ansteckend: „Mit 70 beginnt das Leben“. In jedem EU-Mitgliedsstaat wächst der Anteil der über 65-Jährigen – das bedeutet Kundschaft für maßgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen und ein Wachstumsmarkt für Sozialunternehmen ebenso wie für Innovationen – ein Business Case für die Entwicklung günstigerer, effizienterer und personalisierter Ansätze in der Gesundheitsversorgung.
Mary Harney, ehemalige irische Ministerpräsidentin und Gesundheitsministerin, geht es vor allem um die langfristige Finanzierbarkeit von Gesundheitsversorgung, wenn im Jahr 2050 acht von zehn der über 65-Jährigen an mindestens einer chronischen Erkrankung leiden werden. Lösungen lassen sich nur auf Basis einer gemeinsamen Vision auf europäischer Ebene erabeiten, sagt Harney und kündigt ein neues paneuropäisches Weißbuch an – Acting Together, a Roadmap for Sustainable Healthcare, das am 19. März erscheint. Man mag es in Berlin und anderswo nicht gern hören, jedoch, so Harney, führt kein Weg vorbei, europäische Herausforderungen paneuropäisch anzugehen.
Mr. Robin oder Schwester Agnes?
Extrembeispiele wie der futuristische Einsatz von Menschen ersetzenden Maschinen – robot companions at all ages – im Technologie-Musterdorf Peccioli in der Toskana sind abschreckend und verstörend. Die umfassende Versorgung älterer Menschen sei doch im Grunde eine Sache des gesunden Menschenverstands, sagen statt dessen die Mitglieder der Aktionsgruppe integrierte Versorgung, die sich intensiv mit der besseren Verknüpfung von gesundheitlicher und sozialer Versorgung beschäftigen – und Technologien eher als nachgelagerte Hilfsmittel betrachten. Es verwundert nicht, dass viele in dieser Action Group Beteiligte aus Ländern mit staatlichen Gesundheitsdiensten kommen, wo die horizontale Integration vertikal leichter einzuführen ist: Spanische Regionen wie das Baskenland und Katalonien, die flämische Provinz Brabant, Schottland und das Veneto sind dabei. Und auch, seit ein paar Monaten, das Kinzigtal.
Empathie
So gibt es auch verhaltenere Stimmen in Brüssel. Antoinette de Bont, Versorgungsforscherin aus Rotterdam, plädiert für gänzliche andere Wege, weg von der Behandlung hin zu Versorgung, Cure to Care, im Sinne von Umsorgen, Kümmern, Zuwenden. In ihrem Modellprojekt arbeitet sie mit Kunst und Tanz – Senioren haben nicht nur körperliche Bedürfnisse und Gebrechen – und holt Bühnentänzer ans Gemeindezentrum, um die älteren Menschen zu bewegen. „Grenzen durchbrechen“ nennt sie den auf Emotionen setzenden Ansatz, breaking boundaries.
Ausblick
Einig sind sich Experten und Teilnehmer über die Reichweite und Dringlichkeit des demografischen Wandels, uneins bei den Hebeln. Ladislav Miko, kommissarischer Leiter der Generaldirektion Gesundheit, hält nicht den demografischen Wandel für das Problem, sondern die Trägheit von Regierungen oder Märkte, die keine Lösungen entwickeln. HIT-Experten verweisen auf die mangelnde Standardisierung von Informationstechnologien. Intransparenz, Fragmentierung und Ressourcenverschwendung sind die Folge. Europa, so der italienische Ingenieur und Zukunftsforscher Paolo Dario vom Biorobotics Institute in Pisa, muss erst noch ein Ökosystem für echte Innovationen schaffen, wenn es diese große Herausforderung stemmen will.
Eine längere Version dieses Beitrags erschien im Gelben Dienst in der Ausgabe 7/2015, Vincentz Network. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung.