Dr. Christoph Andreis arbeitet seit 2007 in der Vitos Klinik Rehberg in Herborn. Seit 2012 leitet er die kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanz. Im Interview erzählt er von seiner Arbeit als Kinder- und Jugendpsychiater und beeindruckenden Erlebnissen.
Natalie Kittler: Wie sieht Ihre Arbeit in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz aus?
Dr. Christoph Andreis: Unser Team bietet die Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen aus dem gesamten kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitsspektrum an. Unsere Patienten sind in der Regel zwischen drei und 21 Jahren alt und kommen letztlich wegen unterschiedlichsten Schwierigkeiten. Einen großen Bereich stellen schulische Lern- und Verhaltensschwierigkeiten dar, wobei die meisten Patienten im Kern an Ängsten und/oder depressiven Störungen erkrankt sind. Wir sehen und behandeln auch Kinder und Jugendliche mit Psychosen, Zwangs- und Essstörungen und viele Kinder und Jugendliche, die sehr schwierige Situationen erlebt haben und belastet sind.
Natalie Kittler: Was ist das Besondere an Ihrer Arbeit mit den jungen Patienten?
Dr. Christoph Andreis: Das Besondere ist, dass Kinder und Jugendliche unter enger Bezugnahme auf ihr soziales Umfeld gesehen, verstanden und behandelt werden müssen. Mehr als es bei Erwachsenen der Fall ist. Kinder und Jugendliche schaffen es häufig nicht, eigene Probleme zu benennen oder um Hilfe zu bitten. Außerdem zeigen sich seelische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen anders als bei Erwachsenen. Sie sind folglich oft schwerer einzuordnen bzw. nicht eindeutig ersichtlich.
Natalie Kittler: Inwieweit äußern sich psychische Erkrankungen anders, als bei Erwachsenen?
Dr. Christoph Andreis: Bei Kindern gibt es die gleichen psychischen Erkrankungen wie bei Erwachsenen. Die Symptomatik, die Art, wie sich die Erkrankungen darstellen, unterscheidet sich aber häufig. Typisches Beispiel ist die frühkindliche Depression. Diese äußert sich bei Kindern oft nicht durch eine ausgeprägte Energie- und Antriebslosigkeit, wie wir es eher bei Erwachsenen sehen. Kinder zeigen in dem Fall häufig eine ausgeprägte Impulsivität und teilweise auch Aggressivität.
Natalie Kittler: Wie therapiert man Kinder, insbesondere dann, wenn sie sich noch nicht selbst ausdrücken können?
Dr. Christoph Andreis: Vor allem jüngere Kinder, ich spreche von Grundschulalter und jünger, können komplizierte, belastende Situationen und Gefühle noch nicht verstehen und entsprechend versprachlichen. Deshalb wenden wir sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie Methoden an, bei denen Medien zur Hilfe genommen werden können (Spielen, Malen, Basteln, Musik). Über diese drücken Kinder symbolisch ihre Belastungen und Sorgen aus und wir können ihre Seelenwelt besser verstehen.
Ein weiterer großer Unterschied zur Behandlung von Erwachsenen liegt darin, dass die Symptomatik eines psychisch erkrankten Kindes vor dem Hintergrund seiner sozialen Bezüge zu sehen ist. Eine Kinderpsychotherapie kann nur hilfreich sein, wenn das äußere Umfeld (Eltern, im weiteren Sinne Kindergarten oder Schule) eng mit einbezogen wird. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, an dieser Stelle nicht nur das Kind zu unterstützen und ihm bei der Verarbeitung der Belastung zu helfen, sondern auch, als Übersetzer des Kindes für die Eltern zu arbeiten. Je mehr die Eltern und die weiteren Bezugspersonen über die Belastung des Kindes verstehen, umso entlasteter wird das Kind und umso besser kann die belastende Situation verändert werden.
Natalie Kittler: Warum ist ein Besuch beim Therapeuten für Eltern oft ein schwieriger Schritt?
Dr. Christoph Andreis: Eltern sind natürlich für eine gute Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder verantwortlich. Sie fühlen sich allerdings auch häufig allein verantwortlich, wenn ihre Kinder erkranken. Insbesondere, wenn es um psychische Störungsbilder geht. Die Fragen, „Haben wir etwas falsch gemacht?“ oder „Hätten wir das verhindern können?“ stehen oft im Raum. Dahinter verbergen sich Sorgen, Schuldgefühle sowie Hilflosigkeit und Zweifel an den eigenen Fähigkeiten als Eltern, was den Schritt zum Therapeuten sehr erschweren kann.
Natalie Kittler: Können Eltern mit ihrem Verhalten einer psychischen Erkrankung ihres Kindes vorbeugen?
Dr. Christoph Andreis: Ein Teil der Kinder, die bei uns vorgestellt werden, reagieren tatsächlich auf Belastungen und Überforderungssituationen der Eltern. Diese können sich ganz unterschiedlich darstellen. Finanzielle oder berufliche Belastung, partnerschaftliche Probleme oder eigene psychische Erkrankungen wie Ängste oder Depressionen. Wenn ein Kind dann darauf reagiert und erkrankt bzw. Symptome entwickelt, stellt das einen zusätzlichen Belastungsfaktor für die Eltern dar. Dieser macht die familiäre Gesamtsituation wiederum schwieriger. So kann ein Teufelskreis entstehen.
Auf die eigene Gesundheit und das eigene seelische Gleichgewicht zu achten, hat sicherlich einen präventiven Wert für die Gesundheit und seelische Ausgeglichenheit der eigenen Kinder. Zudem sind wir alle nicht davor geschützt, in Krisen zu geraten und auch nur in den seltensten Fällen allein dafür verantwortlich. Hier frühzeitig Unterstützung einzuholen, um eine Krise zu bewältigen, hat ebenfalls präventiven Charakter.
Dennoch, natürlich gibt es auch viele psychische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, die auf angeborenen Neigungen beruhen. Genauso, wie es für Kinder Belastungsfaktoren geben kann, die nicht in der Familie, sondern zum Beispiel in der Schule oder dem weiteren sozialen Umfeld liegen. Hier gilt es für Eltern, einfach ein wachsames Auge auf die eigenen Kinder zu haben und sich dann, wenn die Sorge wächst, einen professionellen Rat einzuholen.
Natalie Kittler: Was gefällt Ihnen am Beruf des Kinder- und Jugendpsychiaters am besten?
Dr. Christoph Andreis: Das Schönste an meinem Beruf ist für mich die Möglichkeit, früh in einer ungünstigen Entwicklung eingreifen zu können. Im Kindes- und Jugendalter die „Weichen“ umstellen zu können, kann bedeuten, dass die Biografie eines Menschen anschließend grundlegend anders verläuft. Dies ist natürlich auch gleichzeitig die größte Herausforderung in meinem Beruf. Als Kinderpsychiater sehe ich eben die Kinder, die schon sehr früh in ihrem Leben großen Belastungen ausgesetzt sind, bzw. in ihrer Entwicklung Probleme haben. Da auch in Krisensituationen einen Weg wieder herauszufinden, kann mitunter sehr schwierig sein. Es ist aber eine umso dankbarere Aufgabe, wenn es gelingt.
Natalie Kittler: Gibt es in Ihrem Arbeitsalltag besondere Momente?
Dr. Christoph Andreis: Besonders im Gedächtnis bleiben für mich insbesondere zwei Situationen. Zum einen sind es Befundgespräche, wenn es gelingt, dass Eltern einen wahren „Aha-Effekt“ erleben und am Ende durch uns ihr Kind in seiner Problematik verstehen und wieder einen Weg nach vorne sehen können. Zu sehen, wie Eltern dann durchatmen und wieder Mut fassen, ist ein unheimlich schönes Gefühl.
Die andere Situation, über die ich mich immer wieder sehr freue, ist, wenn wir Behandlungen „erfolgreich“ beenden können. Wenn Kinder, Jugendliche und Eltern stolz berichten, dass sie eine schwierige Entwicklungshürde geschafft haben und ein Ziel, das vorher undenkbar war, erreicht werden konnte.
Natalie Kittler: Im November letzten Jahres haben Sie an der Telefonaktion „Direkter Draht zum Mediziner“ der Dillenburger Zeitung teilgenommen. Warum boten Sie diese Telefonaktion an?
Dr. Christoph Andreis: Mein Anliegen war es, Vorbehalte und Stigmatisierung abzubauen und die Kinderpsychiatrie über ein öffentliches Forum konkreter werden zu lassen. Jeden Tag erleben wir aufs Neue, dass es eine große Hürde, insbesondere für Eltern, darstellt, sich bei Kinder- und Jugendpsychiatern oder -psychotherapeuten zu melden und um Rat zu bitten. Die Erfahrung zeigt aber auch, dass, ist diese Hürde erst einmal überwunden, viele Vorurteile rasch abgebaut werden können.