Jeder Mensch hat mal einen schlechten Tag oder auch zwei, drei schlechte Tage hintereinander. Das ist ganz normal. Eine Depression ist etwas anderes und lässt sich ganz klar von einem „kleinen Durchhänger“ abgrenzen. Dr. Siegfried Scharmann, Oberarzt einer Station für affektive Störungen am Standort Marburg, erklärt, wie man eine Depression erkennt, was mögliche Auslöser sind und was man tun sollte, wenn man erkrankt ist.
Hat die Zahl der Patienten, die an Depressionen leiden, in den letzten Jahren zugenommen?
Dr. Siegfried Scharmann: Das ist nicht einfach und derzeit nicht abschließend zu beantworten. In jedem Fall nimmt in vielen Regionen der Welt, auch bei uns, die Wahrnehmung, die Erkennung und die Akzeptanz von Depressionen als psychische Erkrankung zu. Das Risiko im Laufe des Lebens mindestens einmal an einer behandlungsbedürftigen Depression zu erkranken, wird auf ca. 15 bis 20 Prozent der Menschen geschätzt, d. h. nahezu jeder fünfte Mensch erkrankt an einer Depression. Depressionen sind eine der häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung. Aktuelle Prognosen zeigen, dass diese Zahl weiterhin steigen wird. Laut der Weltgesundheitsorganisation wird 2030 die Depression den ersten Platz für die häufigste Ursache für die durch Krankheit beeinträchtigten Lebensjahre einnehmen.
Wie kommt es zu dieser Entwicklung und welche Folgen gibt es?
Dr. Siegfried Scharmann: Häufig wird die hohe Zahl der Erkrankungen auf gesellschaftliche Veränderungen zurückgeführt, wie zum Beispiel die hohen Anforderungen der Berufswelt und die ständige Erreichbarkeit durch Mobiltelefone. Bedeutsame Faktoren für den Anstieg stellen jedoch vor allem eine verbesserte Diagnostik, höhere Akzeptanz und bessere Aufklärung dar. Durch die medizinische Entwicklung und Aufklärung über die Erkrankung wird sie häufiger erkannt und kann besser behandelt werden. Hinter manchen chronischen Rücken-, Bauch- oder Kopfschmerzen, für die es keine erkennbaren körperlichen Ursachen gibt, kann zum Beispiel auch eine Depression stecken.
Außerdem hat die verstärkte Medienberichterstattung der letzten Jahre dazu geführt, dass die gesellschaftliche Akzeptanz der Erkrankung zugenommen hat. Das Ergebnis ist, dass sich mehr Menschen zu ihrer Erkrankung bekennen und einen Arzt aufsuchen.
Wie unterscheide ich, ob ich depressiv oder „nur“ traurig bin?
Dr. Siegfried Scharmann: Traurigkeit und Trauer sind zunächst normalpsychologische Vorgänge. Mit Traurigkeit wird häufig eine eher situative, nicht überdauernde Stimmung beschrieben. Anhaltende und tiefe Trauer wird vor allem durch das Erleben und Verarbeiten von Verlusten verursacht. Depressionen hingegen können durch Verlusterlebnisse, gravierende Kränkungserlebnisse, andere kritische Lebensereignisse und Belastungen ausgelöst werden. Sie können aber auch ganz ohne erkennbaren Grund auftreten. Das ist bei etwa 2/3 der Patienten beim ersten Auftreten einer Depression der Fall. Trauer und Depression können, abhängig von Dauer, Art und Schwere der Symptome, auch ineinander übergehen. Insbesondere schwere Depressionen im Sinne einer psychiatrischen Krankheitsdiagnose sind dabei aber eher im Gegensatz zur Trauer durch ein „Gefühl der Gefühllosigkeit“, d. h. sowohl „Sich-nicht-freuen-Können“ als auch „Nicht-traurig-sein-Können“ gekennzeichnet.
Bei depressiven Menschen werden ganz unterschiedliche Symptome, sowohl Veränderungen im Verhalten und Erleben als auch körperliche Beschwerden beobachtet. Hier unterscheiden wir zwischen Haupt- und Zusatzsymptomen.
Die Hauptsymptome sind gedrückte Stimmung, Interessen- und Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit und Ermüdung. Hinzu kommen eine ganze Reihe an möglichen Zusatzsymptomen, wie verminderte Konzentration, vermindertes Selbstwertgefühl, Pessimismus, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit. Auch körperliche Beschwerden können ihre Ursache in der depressiven Erkrankung haben, dazu gehören zum Beispiel chronische Kopfschmerzen oder auch Bauchschmerzen.
Wenn mindestens zwei Haupt- und zwei Zusatzsymptome über einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen auftreten, kann man in aller Regel von einer behandlungsbedürftigen Depression ausgehen. Da es jedoch nicht „die eine Depression“ gibt und die Symptome in unterschiedlicher Zusammensetzung und Dauer auftreten können, kann die Krankheit sich auf verschiedene Art und Weise manifestieren bzw. bemerkbar machen. Oft klagen Betroffene zunächst beim Hausarzt über eine allgemeine Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen. Erst gezieltes Nachfragen bringt dann weitere Beschwerden zum Vorschein.
Kann eine Depression jeden treffen?
Dr. Siegfried Scharmann: Ja, generell kann jeder Mensch, unabhängig von Geschlecht und Alter, betroffen sein. Trotzdem gibt es bestimmte Gruppen, bei denen depressive Erkrankungen häufiger auftreten als bei anderen.
Zum Beispiel leiden Frauen etwa doppelt so häufig an Depressionen als Männer. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Es wird angenommen, dass Frauen häufiger über ihre Stimmungsschwankungen sprechen und es daher leichter fällt, hinter bestimmten Symptomen eine Depression zu erkennen. Vor allem spielen hormonell bedingte Faktoren, wie bei den Wechseljahren oder einer postpartalen Depression, dabei eine Rolle.
50 Prozent der Menschen erkranken noch vor dem dreißigsten Lebensjahr. „Häufigkeitsgipfel“ liegen zwischen 20 bis 29 und 50 bis 59. Außerdem gehören Altersdepressionen neben der Demenz zu den häufigsten psychischen Erkrankungen.
Was sind die typischen Auslöser für eine Depression?
Dr. Siegfried Scharmann: Es können sowohl psychische, biologische als auch soziale Faktoren Auslöser sein. Meistens ist es ein Zusammenspiel mehrerer Einflüsse. Neben einer Reihe an psychosozialen Aspekten, wie traumatische Erfahrungen oder Verlusterlebnisse, spielen auch genetische Faktoren eine Rolle.
Einer der Risikofaktoren ist chronischer Stress. Ist ein Mensch zum Beispiel durch private oder berufliche Konflikte oder eine Krankheit über einen längeren Zeitraum Stress ausgesetzt, kann dies zu einer Depression führen. Die neurobiologischen Zusammenhänge zwischen psychosozialen Belastungen und Depression sind weiterhin Gegenstand intensiver Forschung. Was heute bekannt ist: Stressvermittelt kann es vor allem bei sehr dünnhäutigen Menschen zu biologischen Veränderungen auch im Gehirn kommen. Offensichtlich wird dadurch die sogenannte „Plastizität“ bestimmter Nervenzellen, d. h. die Fähigkeit zur Anpassung an neue Anforderungen, beeinträchtigt. Es kommt zu Veränderungen der Signalverarbeitung zwischen den Nervenzellen.
Eine bedeutsame Rolle spielt dabei die Epigenetik, die als Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und den Genen einer Person angesehen wird. So haben Umwelterfahrungen von Menschen einen Einfluss darauf, ob bestimmte Gene an- oder abgeschaltet werden, d. h. ob diese abgelesen werden oder nicht. Verschiedene Einflussfaktoren auf die Depression und ihren Verlauf werden derzeit von einer Deutsche Forschungsgemeinschaft, kurz DFG-Forschergruppe der Philipps-Universität Marburg untersucht, die auch von der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Marburg und anderen Vitos Kliniken unterstützt wird.
Wann ist es Zeit, zum Arzt zu gehen?
Dr. Siegfried Scharmann: Sobald die Lebensqualität nachlässt und die depressiven Symptome den Alltag negativ beeinflussen, sollte man zum Arzt gehen. Eine Depression darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen und als schlechte Laune abtun. Bleibt sie unbehandelt, kann sie chronisch und sogar lebensbedrohlich werden, da sie mit zunehmender Ausprägung mit einem hohen Suizidrisiko einhergeht.
Das Risiko für schwere Fremdgefährdungen (Tötung, Körperverletzung) ist hingegen bei Depressionen nicht generell gegenüber Nicht-Depressiven erhöht. Fälle von „erweitertem“ Suizid (Einbeziehen von weiteren Personen in die Selbsttötungsideen; Tötung von engen Angehörigen direkt vor einem Suizid, z. B. Kindstötung durch die Mutter) oder sogenannten „Mitnahmesuiziden“ (Inkaufnehmen der Tötung anderer, meist Fremder, im Rahmen der Suizidhandlung, z. B. Tötung durch suizidales „Geisterfahren“ auf der Autobahn) sind selten mit allerdings nicht unerheblicher Grauzone (Mitnahmesuizid oder Unfall?).
Wie sehen die ersten Behandlungsschritte aus?
Dr. Siegfried Scharmann: Der Arzt klärt zunächst verschiedene mögliche Ursachen für die Erkrankung ab und untersucht, ob eventuell organische Gründe der Auslöser sind. Das könnten zum Beispiel bestimmte Medikamente oder eine Erkrankung der Schilddrüse sein. Sind organische Ursachen ausgeschlossen, entscheidet er gemeinsam mit dem Patienten, welche Behandlung die richtige ist. Da in der Regel der Erstkontakt über den Hausarzt läuft, wird dieser den Patienten an einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie überweisen. Der Patient trifft mit dem Psychiater die weitere Entscheidung über die Behandlung: Reicht eine ambulante Behandlung bei einem niedergelassenen Psychiater oder Psychotherapeuten? Ist eine intensivere Therapie in einer Institutsambulanz eines Fachkrankenhauses oder eine tagesklinische bzw. eine stationäre Behandlung notwendig?
Ist ein geeigneter behandelnder Arzt gefunden, bespricht dieser mit dem Patienten, ausgehend von den Symptomen sowie dem Schweregrad, welche Medikamente und psychotherapeutischen oder sonstigen Behandlungsverfahren sinnvoll sind. Alle Behandlungsschritte werden gemeinsam mit dem Patienten getroffen. Seine Wünsche und persönlichen Präferenzen stehen bei allen Entscheidungen im Vordergrund.
Neben Medikamenten und Psychotherapie gibt es auch die Elektrokonvulsionstherapie. Für wen ist diese Therapie geeignet und wie läuft sie ab?
Dr. Siegfried Scharmann: Es gibt neben Psychopharmaka und verschiedenen Psychotherapieverfahren, auch wissenschaftlich fundierte Therapieverfahren zur Behandlung von Depressionen, z. B. Lichttherapie, Wachtherapie (Schlafentzug) und sogenannte Stimulationsverfahren, darunter u. a. Elektrokramptherapie, repetitive transkranielle Stimulation (rTMS) und Vagusnervstimulation.
Die Elektrokonvulsionstherapie ist vor allem für schwerst depressiv Erkrankte, mit sogenannter wahnhafter Depression, eine Option, bei denen Medikamente und andere Therapien keine Wirkung zeigen. Dazu bekommt der Patient eine Narkose und ein Muskelentspannungsmittel (Muskelrelaxans). Unter medizinischer Überwachung stimulieren elektrische Impulse das Gehirn, sodass ein epileptischer Anfall künstlich und zeitlich begrenzt unter ärztlicher Kontrolle (Anästhesie) herbeigeführt wird.
Kann ich etwas tun, um einer Erkrankung oder einem Rückfall entgegen zu wirken?
Dr. Siegfried Scharmann: Körperliche Aktivität, Sport und eine gesunde Ernährung haben eine positive Wirkung. Außerdem sollte man regelmäßig Dinge tun, die einem Spaß machen, wie seinen Hobbys nachgehen und soziale Kontakte pflegen. Generell tut es dem Gehirn gut, aktiv zu sein. Schon eine halbe Stunde lernen, schafft neue Verbindungen im Gehirn. Auch ausreichender und ungestörter Nachtschlaf ist wichtig, damit das Gehirn die Einflüsse des Tages verarbeiten und sich regenerieren kann.
Nach einer depressiven Episode, wird empfohlen zur Rückfallprophylaxe über einen längeren Zeitraum eine Behandlung ambulant fortzusetzen. In der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Marburg haben wir für die Patienten eine Depressions-Station mit einem speziellen Behandlungsangebot und ambulantem Nachsorgeprogramm eingerichtet. In regelmäßigen Gesprächen wird geschaut, ob der Betroffene in problematische Verhaltensstrukturen zurückfällt und seine Selbstachtsamkeit geschult. So kann er frühzeitig selbst Anzeichen seiner Erkrankung erkennen. Oft ist es hilfreich, auch die Familie oder andere Vertrauenspersonen mit einzubeziehen.
Wir beschäftigen uns in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Marburg intensiv mit dem Thema Depression. Hier gibt es zudem eine Spezialstation für die Behandlung von Depressionen im höheren Lebensalter. Zudem forschen Frau Dr. Cabanel und Herr Dr. Kundermann unter der Leitung des Ärztlichen Direktor, Prof. Dr. Dr. Müller, u. a. am Zusammenhang von Schlaf und Depression.
Abschließend möchten wir auf unsere regelmäßig stattfindenden Weiterbildungsveranstaltungen und Symposien zum Thema „Depression“ in Gießen und Marburg und auf zwei Bücher hinweisen, die an unseren beiden Kliniken auch den Mitarbeitern zur Verfügung stehen: Aus unserer gemeinsamen Feder stammt das handlungsorientierte Kurzlehrbuch Müller MJ & Scharmann S, Hrsg., 2013. Manual Psychiatrie und Psychotherapie. KVM-Der Medizinverlag; am Standardwerk der Psychopharmakologie ist Prof. Dr. Dr. Müller seit vielen Jahren mit mehreren Kapiteln maßgeblich beteiligt: Benkert O, Hippius H, Hrsg., Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. 10. Auflage. Berlin: Springer.
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