„Wir sind längst an der Grenze unserer Belastbarkeit“

Die wachsende Zahl von Asylsuchenden überfordert nicht nur viele Kommunen, sondern stellt auch Aidshilfen vor Probleme. Momentaufnahmen aus Freiburg, Nürnberg und Oberhausen.

Sie entfliehen Krieg, Gewalt und Verfolgung und hoffen auf ein besseres, menschenwürdiges Leben. Die Flüchtlingsströme aus Osteuropa, Afrika, Syrien und anderen Konfliktregionen halten ungebrochen an. Allein im Januar 2015 wurden in Deutschland über 25.000 neue Asylanträge gestellt – doppelt so viele wie im Januar des Vorjahrs. Viele Städte und Gemeinden sind längst nicht mehr in der Lage, adäquate Unterkünfte bereitzustellen. Aber auch für Aidshilfen und andere Aidsberatungen ist die wachsende Zahl der Flüchtlinge eine Herausforderung.

In Nürnberg erlebt man die Situation derzeit vergleichsweise entspannt. Für viele der HIV-positiven Asylbewerber des nahe gelegenen zentralen Auffanglagers Zirndorf ist die AIDS-Beratung der Stadtmission der erste Anlaufpunkt. „Unsere Aufgabe ist nicht, die Patienten rundum zu versorgen und zu betreuen, sondern bei allem, was mit HIV und Aids zu tun hat“, erklärt Sozialarbeiterin Stephanie Herrmann. Im Vordergrund stehen dabei die Aufklärung über die Infektion und die Behandlungsmöglichkeiten sowie die Vermittlung an HIV-Schwerpunktärzte.

„In Bayern und Sachsen wird immer noch routinemäßig auf HIV getestet“

Wichtig sei ein gut funktionierendes Netzwerk, so Herrmann. Im Zweifelsfall vermittle man die Klienten weiter, so etwa an den psychologischen Fachdienst bei schweren psychischen Störungen oder Traumatisierungen. Auch die Zusammenarbeit mit der Aufnahmeeinrichtung funktioniert demnach reibungslos. „Sie leitet positiv Getestete umgehend an uns weiter. In Bayern wie auch in Sachsen werden Asylbewerber nämlich immer noch routinemäßig auf HIV untersucht.“

Was diese Zwangstests angeht, ist Sabine Herrmann allerdings gespalten. „Das ist einerseits eine klare Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Andererseits besteht für einige dadurch die Chance, hier eine Therapie und einen Aufenthaltsstatus aus humanitären Gründen zu bekommen.“

Bei 38 Menschen wurde 2014 auf diese Weise eine HIV-Infektion festgestellt, ein Drittel von ihnen stammte aus Äthiopien. Den Weg zur Beratungsstelle haben letztlich aber nur neun gefunden. Die Gründe kann Sabine Herrmann nur vermuten. Entweder wussten viele bereits vor ihrer Ankunft in Deutschland von ihrer HIV-Infektion und haben direkt einen Schwerpunktarzt aufgesucht. Oder sie ignorieren das Testergebnis, weil sie damit psychisch überfordert sind, weil sie Diskriminierung durch ihre Landsleute befürchten oder weil zunächst ganz andere Probleme im Vordergrund stehen. Zum Beispiel eine Drogensucht, wie das bei vielen Asylbewerbern aus Russland, Tschetschenien und der Ukraine der Fall ist.

Bei Migranten aus Osteuropa steht oft eine Drogensucht im Vordergrund

Weniger entspannt als in Nürnberg ist die Situation im Ruhrgebiet. „Wir sind längst an der Grenze unserer Belastbarkeit“, sagt Natalie Rudi, Geschäftsführerin der Aidshilfe Oberhausen. Anderthalb feste Stellen stehen aktuell für die Betreuung ihrer rund 150 Klienten bereit. Ein Drittel von ihnen hat einen Migrationshintergrund. Darunter sind auch 15 Asylbewerber, die auf einen Aufenthaltsstatus hoffen – 15 von 1.000 Asylbewerbern, die derzeit in Oberhausen leben. Für dieses Jahr werden bis zu 700 weitere erwartet. Wie viele davon die Unterstützung der Aidshilfe brauchen werden, kann jetzt noch niemand einschätzen.

Sicher ist nur, dass jeder weitere Klient die Arbeitssituation in der Aidshilfe verschärft. „Bei Asylbewerbern ist der Betreuungsaufwand weitaus höher als etwa bei einem Deutsch sprechenden HIV-Positiven aus der Mittelschicht“, so Natalie Rudi. Ihnen muss auch nicht erst das hiesige Gesundheits- und Rechtssystem erklärt werden. Anders als die Nürnberger Stadtmission kümmert sich die Aidshilfe Oberhausen nicht nur um die HIV-Versorgung, sondern unterstützt Asylsuchende auch bei anderen sozialen Belangen, so etwa bei Arztbesuchen oder Behördengängen.

Sehr hoher Betreuungsaufwand

Besonders zeitraubend ist die Wohnungssuche. Rudi erzählt von zwei afrikanischen Klienten, denen die Abschiebung droht. Bei dem einen wurde in Deutschland Aids diagnostiziert, der andere weiß von seiner HIV-Infektion seit seinem ersten Deutschlandaufenthalt vor drei Jahren. Damals wurde sein Asylantrag angelehnt und er ausgewiesen. Nun hat er abermals den langen Weg hierher geschafft. Derzeit befinden sich beide in einer Sammelunterkunft.

„Die Zustände im Wohnheim sind schrecklich“, sagt Natalie Rudi. Nachdem ein Abgeordneter der Linken die völlig verdreckten Toiletten und Küchen fotografiert und ins Netz gestellt hat, ist das Ordnungsamt zumindest bemüht, regelmäßig den Müll zu entsorgen und „mit dem Wasserschlauch und Desinfektionsmittel durch die sanitären Anlagen zu gehen“.

Die Aidshilfe hat erreicht, dass die beiden Afrikaner in eine andere Unterkunft wechseln dürfen. Doch eine Wohnung zu finden, ist fast aussichtslos. Über 70 andere Asylbewerber sind derzeit in der gleichen Situation. Zwar gibt es in der Stadtverwaltung die Wohnungshilfe, doch die verfügt nur über eine einzige Stelle und ist heillos überlastet. Bleibt noch der freie Wohnungsmarkt. „Auf dem hat ein Asylbewerber mit dunkler Hautfarbe und ungeklärtem Aufenthaltsstatus aber wenig Chancen“, so Natalie Rudi.

Eine Wohnung zu finden, ist fast aussichtslos

Ortswechsel. Auch in Freiburg im Breisgau ist die Arbeit im Bereich Asyl und Migration in den letzten Jahren deutlich angewachsen. Derzeit kümmert sich die lokale Aidshilfe um 65 HIV-positive Asylsuchende, hinzu kommen diejenigen, die schon einen Aufenthaltstitel haben. Etwa ein Drittel ihrer Arbeitszeit widmen die sechs Hauptamtlichen der Betreuung von Migrantinnen und Migranten.

Immerhin ist es der AIDS-Hilfe Freiburg gelungen, dafür eine eigene Stelle mit EU-Geldern zu finanzieren. Doch die verteilt sich auf mehrere Mitarbeiter inklusive Verwaltung. „Und man glaubt nicht, wie viel Verwaltungsaufwand bei der Beratung von Asylbewerbern entsteht“, erklärt Sozialpädagoge und Berater Ralph Mackmull. Außerdem muss die Aidshilfe zu der Stelle 50 Prozent Eigenmittel beisteuern.

Möglich sei das alles nur durch ehrenamtliches Engagement und Weitsicht, sagt Geschäftsführerin Ulrike Hoffmeister. Die AIDS-Hilfe Freiburg arbeitet bereits seit zehn Jahren im Feld Migration, kooperiert dabei mit dem Deutschen Roten Kreuz Freiburg und hat mit diesem Projektanträge bei der EU eingereicht – mit Erfolg. Gemeinsam kann man ein umfassendes Angebot für Asylsuchende bereitstellen: Die Aidshilfe bietet HIV-Beratung, -Betreuung und -Prävention, die DRK-Kollegen sind zuständig für allgemeine Gesundheitsfragen und Gewaltprävention.

Ein umfassendes Angebot für Migranten dank Kooperation

„Für eine nachhaltige Arbeit sind Projektförderungen allerdings nicht ideal“, gibt Ralph Mackmull zu bedenken. Denn die bewilligten Stellen stehen alle zwei oder drei Jahre wieder auf der Kippe. Daher hat die Aidshilfe nun bei der Stadt die Finanzierung einer halben Stelle für Asyl und Migration beantragt – ob sie bewilligt wird, ist noch nicht abzusehen.

Wenn Freiburg wie geplant in diesem Jahr eine eigene Landeserstaufnahmestelle erhalten wird, dürfte die Zahl der zu betreuenden Flüchtlinge ansteigen. Bereits jetzt werden die im Erstaufnahmelager Karlsruhe HIV-positiv getesteten Asylbewerber nach Freiburg vermittelt, weil dort durch die Aidshilfe eine gute Betreuung und medizinische Versorgung gewährleistet werden kann. Auch die Leitung des Aufnahmelagers im mittelfränkischen Zirndorf ist so weitsichtig und bringt Asylsuchende mit HIV in der Regel im Umkreis von Fürth und Nürnberg unter, wo es HIV-Schwerpunktpraxen gibt.

Auch bei der Sprachvermittlung gibt es nachahmenswerte Beispiele der Kooperation. So baut das Amt für Migration und Integration der Stadt Freiburg derzeit einen Übersetzerpool auf, der ebenso für die Aidshilfe nutzbar ist und wo sie außerdem selbst Experten einbringen kann. Zu verdanken ist das dem DAH-Pilotprojekt MuMM, in dem 2012 an drei Aidshilfe-Standorten sogenannte Gesundheitsdolmetscher aus verschiedenen Migranten-Communitys ausgebildet wurden.

„In der Flüchtlingspolitik wird allenfalls reagiert, aber nicht aktiv gestaltet“

Bei Sprachbarrieren wissen sich die Hilfseinrichtungen meist selbst zu helfen. Die wirklich drängenden Probleme müssen jedoch auf Bundes- oder europäischer Ebene gelöst werden. Und dort wird in der Flüchtlingspolitik allenfalls reagiert, aber nicht aktiv gestaltet, kritisiert Ulrike Hoffmeister. „Es kann nicht sein, dass Menschen innerhalb der EU hin- und hergeschoben werden.“ Ihr Kollege Ralph Mackmull macht das Dilemma an einem Beispiel deutlich: In Italien hatte man einer hochschwangeren Nigerianerin geraten, nach Deutschland weiterzureisen. Wenn sie dort ihr Kind zur Welt bringe, habe sie bessere Chancen, dass ihr Asylantrag bewilligt werde, hieß es. „Solche Fälle haben sich in den vergangenen Monaten gehäuft“, so Mackmull.

Um diesen Frauen helfen zu können, muss er das bereits begonnene Asylverfahren länderübergreifend noch einmal neu aufrollen. Die Rechtslage ist dabei äußert komplex, sodass selbst Fachleute überfordert sind – und auch die für die sogenannten Dublin-Verfahren zuständigen Behörden. Zwei halbe Stellen gebe es dafür in Karlsruhe. „Es ist völlig unkalkulierbar, ob und wann die Vorgänge bearbeitet werden, wer eine Duldung erhält und wer nicht. Das macht es auch schwierig, für diese Menschen eine Perspektive zu entwickeln“, beklagt Ralph Mackmull.

Das bürokratische Labyrinth erfordert spezielles Extertenwissen

Sich einen Weg durch dieses bürokratische Labyrinth zu bahnen, erfordert nicht nur Hartnäckigkeit, sondern auch spezielles Expertenwissen, das nicht unbedingt zu den Kernkompetenzen von Aidshilfen gehört. „Ich sehe unsere Aufgabe durchaus auch darin, die Abschiebung von Flüchtlingen zu verhindern, die in ihrer Heimat keine HIV-Behandlung bekämen“, betont Natalie Rudi.

Für die Kosten des in solchen Fällen notwendigen anwaltlichen Beistands springt oft die Deutsche AIDS-Stiftung ein. Als Ralph Mackmull Prozesskostenhilfe für das Verfahren der über Italien eingereisten Schwangeren beantragte, erhielt er allerdings eine Absage. Denn im Erstaufnahmeland wäre eine adäquate Gesundheitsversorgung gewährleistet gewesen – zumindest theoretisch. Doch Mackmull bezweifelt, dass Flüchtlingen tatsächlich in allen EU-Ländern die gleiche Gesundheitsversorgung zuteil wird. Das ist nicht einmal in Deutschland überall der Fall.

Die Verantwortung für die Versorgung von Flüchtlingen habe man inzwischen weitgehend Nichtregierungsorganisationen und freiwilligen Helfern überlassen, schreibt Antje Sanogo, Migrationsexpertin der Münchner Aids-Hilfe, in einem offenen Brief zur bayrischen Flüchtlingspolitik. Ohne Unterstützung, wie etwa durch die Aidshilfe, erhielten HIV-positive Flüchtlinge nur unzuverlässig Behandlungsscheine für medizinische Behandlung, obwohl ein Anspruch darauf bestehe.

Versorgungslage je nach Bundesland und Kommune anders

Die einzelnen Bundesländer und Städte handhaben die Versorgung von Flüchtlingen sehr unterschiedlich und teilweise sogar widersprüchlich. Hat man Glück, sitzt wie in Oberhausen an entscheidender Stelle eine Person, die erkennt, wie wichtig beispielsweise eine möglichst problemlose Übernahme der Kosten von Substitutionsmitteln für drogenabhängige Asylbewerber ist.

Länder und Kommunen bemühen sich in der Regel redlich und im Rahmen ihrer Möglichkeiten um Wohnraum und medizinische Grundversorgung für Flüchtlinge. In Zeiten klammer Haushaltskassen wird das Machbare allerdings immer viel zu gering sein. Solange diese Lasten nicht umverteilt und die Kommunen nicht entlastet werden, wird man damit auch die Flüchtlinge ihrem Schicksal überlassen. „Wer kümmert sich dann weiter um sie?“, fragt Natalie Rudi. „Und wie steht es um das Recht dieser Menschen auf Arbeit, Gesundheit und Familienzusammenführung?“

Gebraucht werden gemeinsame Strategien

Will man Flüchtlingen tatsächlich eine reelle Chance auf Integration geben, wird man Sozialeinrichtungen wie die Aidshilfen in diesem Bereich personell verstärken müssen. „Doch vielen Entscheidungsträgern ist überhaupt nicht bewusst, dass dieser höhere Betreuungsbedarf entsprechende Ressourcen bindet“, sagt Mackmull. Er sieht hier auch die Deutsche AIDS-Hilfe in der Pflicht, an höchster Stelle wie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und dem Gesundheitsministerium zu intervenieren. Ein Runder Tisch mit den Hauptverantwortlichen könne beispielsweise ein erster Schritt sein, um nach gemeinsamen Strategien für eine langfristige Verbesserung der Situation von HIV-positiven Asylsuchenden zu suchen.