Seit zehn Jahren beantwortet die Onlineberatung der Deutschen AIDS-Hilfe Fragen rund um HIV und STIs. Auf einem Fachtag diskutierte man über die Zukunft, aber auch die Chancen und Grenzen dieses digitalen Angebots.
Nach zehn erfolgreichen Jahren mit mittlerweile über 30.000 Useranfragen auf www.aidshilfe-beratung.de kann Werner Bock unbesorgt ein kleines Geheimnis verraten: „Wir hatten damals nicht gedacht, dass das wirklich funktioniert.“
Beratung zu HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen war bis dahin eine Sache des direkten Kontakts zwischen Ratsuchenden und Ratgebenden – wenn nicht „von Angesicht zu Angesicht“, dann zumindest per Telefon. Doch komplett anonym via Chat oder E-Mail? Die Skepsis seinerzeit ist durchaus nachvollziehbar.
Beratungsneuland Internet
„Mit der Onlineberatung haben wir damals erfolgreich Neuland betreten“, erklärte DAH-Vorstand Ulf-Arne Hentschke-Kristal anlässlich des Jubiläums. Im Oktober vor zehn Jahren ging aidshilfe-beratung.de ans Netz.
Vergangene Woche bereits wurde in Berlin im Rahmen eines Fachtags schon mal gefeiert, aber auch zurück und in die Zukunft geblickt. In den Workshops und Vorträgen beschäftigte man sich unter anderem mit den kommenden Social Media Tools, dem Internet als sexuellem Raum und der Funktion von Fake-Identitäten in der Onlineberatung. Die gegenwärtige Beratungspraxis und die Facetten der Onlinekommunikation standen hingegen im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion unter dem schlichten Titel „Was online alles möglich ist“.
Was online alles möglich
Die langjährige Aidshilfe-Onlineberaterin Sandra Lemmer gab einen Einblick in den Arbeitsalltag des derzeit 30-köpfigen Teams. Nicht nur die Beratungen selbst, sondern auch die zweiwöchentlichen Gruppentreffen der im gesamten Bundesgebiet verstreut lebenden Beraterinnen und Berater finden im virtuellen Raum statt. Dort gibt man sich gegenseitig Feedback, diskutiert problematische Fälle und tauscht Fachinformationen aus. Nur einmal im Jahr trifft man sich ganz offiziell und im realen Leben zur Weiterbildung in Berlin.
Bemerkenswert ist für Sandra Lemmer nach all den Jahren zweierlei: Dass auch in einem virtuellen Team Nähe und Kollegialität möglich sind und dass auch nach drei Jahrzehnten Leben mit HIV und den entsprechenden Aufklärungskampagnen immer noch die gleichen Fragen gestellt werden: Kann ich mich durch Küssen oder eine Türklinke infizieren? Wo kann ich einen Test machen? Habe ich mich womöglich beim One-Night-Stand angesteckt?
Nähe, Empathie und Intensität sind auch online möglich
Immer noch erstaunlich findet Sandra Lemmer aber auch „die Nähe, Empathie und Intensität in den Anfragen selbst“. Die Tatsache, dass man ganz und gar anonym bleiben kann, weder Realname, Gesicht oder Stimme preisgeben muss und seine Fragen zu jeder Tages- und Nachtzeit via Internet stellen kann, lässt Menschen häufig Dinge aussprechen, die sie sich in klassischen Beratungsgesprächen nicht trauen würden.
Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker hatte das in seinem Vortrag anlässlich des Fachtags im Zusammenhang von Dating-Plattformen herausgearbeitet. „Nirgendwo wird so schamlos über Sex gesprochen wie in Chats“, stellte er fest. Die Anonymisierung ermögliche es nicht nur, sexuelle Konflikte und Hemmungen abzustreifen, sondern auch, Fantasien zu äußern, wie man sich das im realen Leben nicht trauen würde.
Dass durch die Anonymität des Internets Schamgrenzen überwunden werden und derart offen über Probleme und Konflikte gesprochen wird, ist allerdings nicht nur für den Bereich Sexualität ein Gewinn.
Schamgrenzen fallen
In der seit 1993 angebotenen Onlineberatung des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie melden sich vor allem Eltern und Lehrer rechtsradikaler Jugendlicher, um Rat und Hilfe zu suchen. Besonders Eltern fühlen sich von der Situation häufig überfordert, berichtet Projektmitarbeiter Martin Ziegenhagen in der Podiumsrunde. Auch er war zu Beginn unsicher, ob Onlineberatung hier funktionieren könne. Für die Betroffenen sei es wichtig zu erleben, dass sie an dieser Stelle richtig sind, sich nicht schämen müssen und vor allem offen sprechen können. „Diese Eltern sind häufig allein mit diesem Problem und wissen einfach nicht weiter.“
Auch für die Suizidprävention bei Jugendlichen erscheint die Onlineberatung eine wichtige Ergänzung zum persönlichen Gespräch zu sein. Denn Angebote dieser Art würden von jungen Menschen oft nicht wahrgenommen, berichtete Christina Obermüller vom Berliner Onlineprojekt U25. Die Anonymität schütze sowohl die Klienten, mehrheitlich Mädchen bis 16, wie auch die Berater, allesamt unter 25 und damit recht nah an der Erfahrungswelt der Kontaktsuchenden. „Wir sind oft die ersten, die von den Suizidabsichten dieser Jugendlichen erfahren“, erzählt Christina Obermüller.
Vorteile und Schattenseiten der Anonymität
„Die Anonymität ermöglicht es ihnen, dass sie ganz ungehemmt über ihre Probleme und Pläne schreiben können. Das allein kann schon Leben retten.“ Oftmals entwickelten sich daraus über Jahre hinweg anhaltende Kontakte. Und brechen manchmal auch wieder abrupt ab. Da wirkt sich die Anonymität dann wie ein großes schwarzes Loch aus: „Wir müssen dann mit der Unsicherheit leben, ob die Person ihre Suizidgedanken verloren hat, in Therapie gegangen ist, nach einem Suzidversuch noch rechtzeitig aufgefunden wurde – oder sich das Leben genommen hat.“
Die Anonymität im Netz hat noch eine andere Schattenseite. Davon berichtete Monika Hirsch-Sprätz von der Mobbingberatung Berlin-Brandenburg. Cybermobbing sei zwar ein noch recht junges Phänomen. Doch weil verleumdende oder diskreditierende Fotos, Videos und Posts womöglich noch viele Jahre sichtbar sind, können sie die Lebensumstände und die berufliche Existenz besonders von Heranwachsenden nachhaltig belasten. Die Mobbingberatung sei mit ihrem Onlinetool gerade für Jugendliche ein ideales, weil niedrigschwelliges Angebot. Und seine Möglichkeiten werden immer wieder neu ausgetestet und weiter ausgebaut.
So wurden bereits Videokonferenzen in der Beratungsarbeit eingesetzt, berichtet Monika Hirsch-Sprätz. Selbst jahrelange psychologische und rechtliche Beratung sei auf diesem Weg keine Seltenheit. Martin Ziegenhagen wiederum berichtet von psychosozialer Beratung, politischer Bildung, Online-Gruppetreffen und selbst Familiencoaching über einen langen Zeitraum, die ausschließlich via Internet stattfinden.
Wie also wird die Zukunft des internetgestützten Angebots aussehen? Michael Jähme, Mitarbeiter der Wuppertaler AIDS-Hilfe und von Anfang an bei der Onlineberatung der Aidshilfen mit dabei, sieht zumindest kein schnelles Ende dieser Beratungsform.
Neue Generationen finden neue Kommunikationsformen
„Das Bedürfnis vieler Menschen, ganz gleich welcher Zielgruppe, nach Gesprächspartnern, mit denen sie sich über ihre Sexualität austauschen und Orientierung finden können, wird bleiben.“ Doch jede Generation müsse die passenden Wege und Formen für sich neu finden, sagte Jähme am Rande der Tagung gegenüber magazin.hiv. Um erfolgreich zu bleiben, müsse sich eine Onlineberatung zu Fragen der Sexualität deshalb bemühen, stets am Puls der Zeit zu sein.
Solche Veränderungen und Verlagerungen spürt Jähme auch aktuell im Beratungsalltag. „Ich hätte mir vor fünf Jahren nicht träumen lassen, dass die aktuellen politischen Prozesse in Europa eines Tages auch uns in der Onlineberatung berühren werden.“ Die wachsende Zahl von Ratsuchenden aus dem Ausland, zum Beispiel Arbeitsmigranten aus Südeuropa, erfordere einiges an Fachkenntnissen in den Feldern Sozialrecht und Gesundheitswesen.
Aber auch in den Kommunikationsformen tut sich was. So hatte Michael Jähme vor einiger Zeit festgestellt, dass manche User ihre Fragen nur noch in sehr verkürzter Form schicken. „Ich war von diesem Telegrammstil, bei dem zwischen den Zeilen viel offen bleibt, zunächst sehr verunsichert“, erzählt der Onlineberater. „Bis ich kapierte, dass diese bruchstückhaften Sätze mit dem Medium zu tun haben.“ Es sind Nachrichten, die nicht mit der Tastatur eines Computers, sondern auf einem Smartphone getippt wurden. Für die Berater stellen diese verknappten Angaben eine besondere Herausforderung dar, weil sie sich umso mehr hineinfühlen müssen, um auf den Kern des Problems zu stoßen – und es bleibt der Zweifel, dass man den User womöglich nicht richtig verstanden hat.
Michael Jähme animiert seine Kolleginnen und Kollegen dazu, einfach beherzt den Beratungsprozess zu starten und solche Unsicherheiten auch zu thematisieren. „Die Herausforderung wird sein“, so Jähme, „einen Antwortstil mit kürzeren Texten zu finden.“
Die Fragen der Menschen mögen sich zwar seit vielen Jahren gleichen, die Kommunikation allerdings wird sich auch bis zum nächsten Jubiläum der Aidshilfe-Onlineberatung weiterentwickeln und verändern.
Axel Schock