Wie wird den Menschen geholfen, die sich Hilfe eigentlich nicht leisten können? Insbesondere den Menschen, die ohne festen Wohnsitz leben, die obdachlos sind. Michael Morschett, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, hilft seit 2014, zusammen mit einer Krankenschwester und einer Sozialpädagogin, da, wo andere oftmals wegsehen.
Natalie Kittler: Wie sieht Ihre Hilfe aus?
Michael Morschett: Seit Mai 2014 haben wir eine wöchentliche Sprechstunde in den Räumen der Teestube in Wiesbaden eingerichtet, jeweils donnerstags von zehn bis zwölf Uhr. Die Teestube ist ein Teil des diakonischen Hilfeverbunds für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten. Sie ist eine Tagesaufenthaltsstelle mit angegliederter Fachberatung. Sie bietet insbesondere wohnungslosen und sozial ausgegrenzten Menschen Beratung, Hilfestellung, sowie Arbeits- und Übernachtungsmöglichkeiten an. Täglich besuchen zwischen 100 und 120 Menschen die Teestube. Sie erfahren hier Hilfe, Geborgenheit und Ansprache durch acht hauptamtliche und rund 100 ehrenamtliche Mitarbeiter. Prinzipiell steht die Sprechstunde allen dort verkehrenden Menschen zur Verfügung. Durch die angestellten Sozialarbeiter werden oft im Vorfeld schon Gespräche geführt und bei Bedarf auch ein unverbindliches Gespräch bei uns vereinbart. Im wöchentlichen Wechsel sind entweder Frau Fiesel, unsere erfahrene Gesundheits- und Krankenpflegerin, oder ich dort anzutreffen.
Natalie Kittler: Aus welchen Personen besteht das Team, das sich um die obdachlosen Patienten kümmert?
Michael Morschett: Zu unserem Team gehören unsere Gesundheits- und Krankenpflegerin Frau Fiesel, unsere Sozialpädagogin Frau Krause-Komlossy und ich. Bei Bedarf werden auch weitere Termine in unserer Ambulanz mit den Psychologinnen vereinbart. Erwähnenswert sind hier auch die hervorragende Zusammenarbeit mit den Sozialarbeitern der Teestube und deren gute Zustimmung zum Projekt sowie innerhalb unseres Teams.
Natalie Kittler: Was genau können Sie tun?
Michael Morschett: Zunächst ist einfach nur zuhören für viele schon hilfreich. Je nach Symptomatik und Motivation der Betroffenen können gemeinsam mit ihnen Schritte zur weiteren psychiatrischen Diagnostik und anschließenden Therapie sowie gegebenenfalls sozialpsychiatrische Maßnahmen besprochen werden.
Natalie Kittler: Wie verläuft die Sprechstunde?
Michael Morschett: Der entsprechende Mitarbeiter trifft um zehn Uhr in der Teestube ein und tauscht sich in der Regel kurz mit den anwesenden Sozialarbeitern aus. Die Sprechstunde findet dann in einem separaten Raum der Teestube statt. Je nach Bedarf und Motivation werden in den einzelnen Gesprächen mögliche weitere Maßnahmen besprochen und gegebenenfalls eingeleitet. Auf Wunsch der Betroffenen wird auch der betreuende Sozialarbeiter informiert, um sie bei weiteren Schritten unterstützen zu können.
Michael Morschett
“Ich arbeite seit Mai 2007 bei Vitos. Nach drei Jahren neurologischer Reha habe ich in der Vitos Klinik Eichberg meine Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie im Februar 2012 abgeschlossen. Seit November 2011 arbeite ich als Arzt in der Vitos psychiatrischen Ambulanz Wiesbaden.”
Natalie Kittler: Wie ist der Bedarf erkannt worden, insbesondere auch obdachlosen Menschen psychiatrisch zu helfen?
Michael Morschett: Initiiert wurde dieses Projekt durch unsere Klinikdirektorin, Dr. Sibylle Roll. Sie war bereits selbst während ihrer Tätigkeit in der Vitos Klinik Bamberger Hof in Frankfurt unter anderem in diesem Bereich tätig. Generell zeigt auch die sogenannte SEEWOLF-Studie (Seelische Erkrankungsrate in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe) aus dem Großraum München den hohen Bedarf in diesem Bereich.
Natalie Kittler: Wie werden die Patienten auf Sie aufmerksam?
Michael Morschett: Derzeit werden Betroffene überwiegend durch die Mitarbeiter der Teestube auf unsere Sprechstunde aufmerksam gemacht. Seit Mai werden im Frauen- und Männerwohnheim, der Wohnwagensiedlung Freudenberg und im Gesundheitsamt Flyer ausgelegt. Diese informieren kurz und knapp in verschiedenen Sprachen über die ambulante Beratung für Obdachlose mit seelischen Störungen, die wir voraussichtlich in Zukunft kurz AMBOSS nennen werden.
Natalie Kittler: Mit welchen Problemen sind Sie bei dieser Arbeit konfrontiert?
Michael Morschett: Aufgrund des hohen Migrantenanteils stellen häufig Verständnisprobleme die größte Hürde dar. Hier haben wir die Möglichkeit, notfalls auf ehrenamtliche Dolmetscher zurückgreifen zu können.
Häufig sind Betroffene auch sehr misstrauisch und lehnen ein „Therapiegespräch“ beim Psychiater ab. Durch unverbindliche Gespräche mit den Betroffenen, z. B. im Hof der Teestube, konnten schon mehrfach diese Hürden genommen und Vertrauen geschaffen werden. Dadurch können wir letztendlich eine Behandlung beginnen und eine Linderung belastender psychischer Symptome erreichen.
Des Weiteren sind viele Obdachlose nicht versichert und können deshalb dringend erforderlichen stationären Maßnahmen nicht zugeführt werden. Glücklicherweise konnten notwendige ambulante Maßnahmen bei Nichtversicherten bisher aus Spendengeldern finanziert werden. An dieser Stelle möchte ich mich im Namen der Obdachlosen auch bei unserer Fundraiserin Beate Schöffel ganz herzlich bedanken, die diese Spenden erst möglich gemacht hat. Da unser Projekt langfristig angelegt ist, werden wir auch in Zukunft weitere Spendengelder (verlinken) benötigen, um unser Angebot allen Betroffenen zugänglich zu machen.
Natalie Kittler: Was gefällt Ihnen an dieser Zusatzaufgabe am besten?
Michael Morschett: Am besten gefällt mir, dass wir diesen Menschen, die häufig mit schwer belastenden Lebensläufen zu uns kommen und am Rande unserer Gesellschaft stehen, überhaupt wieder einen Weg zur professionellen Hilfe anbieten können. Aufgrund ihrer desolaten sozialen und psychischen Situation bleibt nämlich gerade ihnen Hilfe oft verschlossen.