Nanni Fontana war drei Jahre in fünf Ländern auf fünf Kontinenten unterwegs, um das heutige Leben mit HIV und Aids in Wort und Bild festzuhalten. Wir haben den italienischen Fotojournalisten zu seiner Reportage „Out of Sight“ befragt.
„Eine Reise in die globale HIV/Aids-Epidemie nach 30 Jahren“ lautet der Untertitel Ihrer Fotoreportage „Out of Sight“, für die Sie vom Dezember 2010 bis Oktober 2013 auf Tour waren. Herr Fontana, was hat Sie zu dieser Reise veranlasst?
Genau genommen begann diese Reise schon am 21. Welt-Aids-Tag im Jahr 2009, als ich mein HIV-Testergebnis abholte. Als Blutspender hatte ich mich regelmäßig testen lassen, aber der letzte Test war damals schon drei oder vier Jahre her. Zum Test ging ich erst wieder, nachdem ich Lesbia getroffen hatte, den ersten HIV-positiven Menschen, den ich je fotografiert hatte, und als ich mich dann in Eva verliebte, die schließlich meine Frau werden sollte.
Als wir, Eva und ich, unsere Testergebnisse abholten, war ich ziemlich besorgt. Ich hatte Aids für ein Thema gehalten, über das bereits alles gesagt war. Aber nach dem Gespräch mit dem Klinikarzt erkannte ich, dass ich viel zu wenig darüber wusste. Ich nahm mir deshalb vor, mich damit zu beschäftigen, um meine eigene Unwissenheit zu beseitigen und das öffentliche Bewusstsein für das Thema zu schärfen.
„Ich hatte Aids für ein Thema gehalten, über das bereits alles gesagt war“
Als ich dann mein Projekt startete, wusste ich freilich nicht, dass ich mich so lange Zeit und in so vielen Ländern in ein so sensibles, kontroverses und allgegenwärtiges Problem vertiefen würde. Jetzt kann ich sagen: Ich bin froh, dass es passiert ist!
Die Stationen Ihres Projekts waren Thailand, Mosambik, Brasilien, Ukraine und die USA. Warum diese fünf Länder und diese Reiseroute?
Als mich mein Freund, der großartige Fotograf Dario Pignatelli, nach Bangkok einlud, war das für mich genau der richtige Moment, um in meine Projektarbeit einzusteigen. Und weil Thailand der Zielort für internationalen Sextourismus schlechthin ist, beschloss ich, meine Arbeit dort auf sexuelle Gesundheit und Prävention zu konzentrieren. Danach bekam ich von der Weltgesundheitsorganisation Gelder für weitere Fotokapitel. Die Länder wählte ich gemäß der Leitbegriffe der Aidsbekämpfung: Prävention, Behandlung, Pflege und Unterstützung. Außerdem sollte mein Projekt alle Kontinente abdecken.
Eine Reise entlang der Leitbegriffe der Aidsbekämpfung
Für Afrika wählte ich Mosambik aufgrund seiner immensen Anstrengungen, alle Behandlungsbedürftigen – speziell schwangere Frauen – zu erreichen. Als beste Wahl für Südamerika erschien mir Brasilien wegen seiner großartigen Patientenversorgung. In Europa wählte ich die Ukraine, ein Land, wo man sich sehr schwer tut, HIV-Positive und ihre Familien zu unterstützen. Die USA kamen zum Schluss dran: Hier hatte die Epidemie ihren Anfang genommen, und hier hat man in den letzten 30 Jahren mehr als in jedem anderen Land in die Entwicklung neuer HIV-Medikamente und eines Impfstoffs investiert. Ozeanien habe ich ausgelassen wegen der geringen HIV-Prävalenz dort.
Wie sind Sie mit den Menschen in Kontakt gekommen, mit denen Sie arbeiten wollten?
Nach Internet-Recherchen, der Lektüre von Artikeln und Büchern und der Suche nach Arbeiten anderer Fotografen zum Thema nahm ich zu allen möglichen Leuten Kontakt auf und bat sie um Unterstützung bei der Verwirklichung meines Vorhabens. Wie immer bei solchen Projekten blieben mir einige Türen verschlossen, aber es öffneten sich auch viele neue Türen, darunter solche, mit denen ich gar nicht gerechnet hätte. Letztlich lautet die wichtigste Regel, wenn man mit Leuten arbeiten möchte: Sei, wer du bist. Wenn du andere in deine Welt eintreten lässt, werden sie auch eher bereit sein, dich in ihre Welt hineinzulassen.
Ihr Projekt heißt „Out of Sight”, zu Deutsch etwa „nicht sichtbar“, „außer Sichtweite“ oder „aus den Augen“. Wie sind Sie auf diesen Titel gekommen?
Als bereits alle Fotos gemacht waren und jedes Kapitel schon seine Überschrift hatte, brauchte ich noch einen Titel für das Gesamtwerk. Einen, der stimmig und zugleich ansprechend und leicht zu erinnern ist, wie eben „Out of Sight“.
„Es gibt immer noch zu viel Unwissen und jede Menge Vorurteile“
Dieser Titel soll einerseits darauf verweisen, dass das Virus fürs menschliche Auge unsichtbar und daher fotografisch schwierig darzustellen ist. Die Mehrheit der heutigen Betroffenen hat ja nicht das Vollbild Aids; ich musste also einen Weg finden, ihre Geschichten zu visualisieren, ohne die stereotypen Vorstellungen von der Krankheit zu bedienen. Andererseits sind Menschen mit HIV in vielen Ländern, auch in Italien, aufgrund von Stigma und Diskriminierung irgendwie unsichtbar geworden. In der allgemeinen Öffentlichkeit gibt es immer noch viel zu viel Unwissen und jede Menge Vorurteile, was dieses Thema angeht. Letztlich wollte ich wieder etwas ans Licht bringen, was unsichtbar geworden ist.
„Out of Sight“ ist als Wanderausstellung konzipiert, es gibt dazu ein Buch und eine Webseite. Es ist also mehr als nur ein Fotoprojekt.
Ja, ich wollte, dass „Out of Sight” zugleich ein Präventionsinstrument wird, um über die weltweite Epidemie zu informieren. Daher gibt es auf der Projekt-Website zu jedem Kapitel einen Textbeitrag mit leicht verständlichen Infografiken. „Out of Sight“ kann man beispielsweise in Schulen einsetzen, um mit Kindern über all das zu reden, was sie über die Krankheit und die Schutzmöglichkeiten wissen müssen. Und genau das ist es, was ich derzeit zu erreichen versuche.
Als die Fotos letztes Jahr im Palazzo Ducale in Genua im Rahmen des Wissenschaftsfestivals gezeigt wurden, schauten sich hunderte Schüler und Familien die Ausstellung an und hörten dem extra für das Projekt geschulten Medizinstudenten zu. Da habe ich erkannt, dass wir tatsächlich etwas gegen die weitere Ausbreitung von HIV und Aids tun können. Und so habe ich beschlossen, mit der Hilfe von Vanda Gatti, der Kuratorin des Wissenschaftsteils der Ausstellung, und Professor Giorgio Colombo von der Universität von Pavia ein Projekt zu entwerfen, um „Out of Sight“ in die italienischen Schulen zu bringen. Das Konzept wird derzeit vom italienischen Gesundheitsministerium geprüft.
„Jedes Leben ist eine eigene Geschichte“
Ihre Fotos zeigen ganz unterschiedliche Menschen in allen möglichen Situationen, aus verschiedenen Blickwinkeln…
Und damit zeigen sie, wie das menschliche Leben und die HIV-Epidemie sind: unglaublich komplex und faszinierend. Jedes Leben ist eine eigene Geschichte, und das gilt auch für jede HIV-positive Person. Ich habe in den Jahren mit so vielen Menschen gesprochen, und obwohl die Krankheit immer dieselbe ist, hat mir doch jeder Einzelne etwas anderes erzählt und gezeigt. Aber uns alle eint, dass wir das gleiche Recht auf einen Lebensstandard haben, der die Gesundheit und das Wohl jedes Einzelnen und seiner Familie gewährleistet, wie es in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt. Leider gibt es immer noch sehr unterschiedliche Lebensstandards, abhängig vom Geburtsort, der ökonomischen Situation der Familie, der Sozialpolitik in einem Land und so weiter.
Wenn man möglichst viele Geschichten dokumentiert, wird außerdem sichtbar, wie sehr sich die Epidemie seit ihren Anfängen verändert hat. Damals waren mehrheitlich junge homosexuelle Männer davon betroffen, heute dagegen sind viele – wenn nicht die Mehrheit – heterosexuell, und in einigen Ländern wie den USA steigt die Lebenserwartung und damit auch die Zahl der mit HIV lebenden Menschen aufgrund der neuen, besser verträglichen Medikamente.
„Sichtbar wird, wie sehr sich die Epidemie verändert hat“
Ein Freund von mir verbrachte zwei Wochen in einem Gefängnis, um inhaftierte Frauen für sein Projekt zu fotografieren. Haben Sie für „Out of Sight“ auch so etwas gemacht?
Ich habe versucht, Zutritt zu ukrainischen Gefängnissen zu bekommen, weil es dort sehr viele Häftlinge mit HIV gibt. Leider bekam ich keine Erlaubnis dafür, sodass ich auf diesen Aspekt dann verzichtet habe. Aber ich machte doch etwas, was mit dem Vorgehen Ihres Freundes vergleichbar ist: In New York, wo ich meine USA-Reportage begann, nahm ich an den wöchentlichen ACT UP-Treffen im LGBT-Zentrum in Manhattan teil und machte dann auch bei ihren Aktionen mit. Die AIDS Coalition to Unleash Power gründete sich in den 1980ern, um Politiker und Pharmaunternehmen dazu zu bringen, auf die Epidemie zu reagieren; die Bewegung ist heute noch aktiv und kämpft gegen die Diskriminierung von Menschen mit HIV.
In den fünf Monaten meines New York-Aufenthalts war ich jeden Montag im LGBT-Zentrum – dadurch wuchs bei mir das Gefühl, dazuzugehören. Ich bin immer noch in Kontakt mit vielen ACT UP-Leuten und hoffe, dass ich die Ausstellung nach New York bringen kann, um ihnen auf diese Weise für ihre Unterstützung zu danken.
Sie haben zu Ihrem Projekt geschrieben: Keine Antwort auf HIV kann wirklich effektiv sein, wenn sie sich nicht auch gegen Diskriminierung richtet.
Die HIV/Aids-Epidemie ist immer wieder durch Stereotypen in Bezug auf die besonders betroffenen Gruppen charakterisiert worden – ich erinnere an die Bezeichnung „Schwulenkrankheit“ Anfang der 1980er. Indem man die Infektion einer bestimmten Gruppe zuschreibt, wird diese zur perfekten Zielscheibe für Vorurteile und Diskriminierung – nicht nur, was die Krankheit selbst, sondern auch das Alltagsleben der Betroffenen angeht.
„Durch Zuschreibung zur perfekten Zielscheibe für Diskriminierung“
HIV-Positive werden auch heute noch ausgegrenzt, etwa in Form von Kündigungen des Arbeitsplatzes, Verweigerung von Pflege und Betreuung oder unfreiwilligem Outing – nicht nur durch Individuen, sondern auch durch Regierungen. Zum Beispiel wissen die meisten Leute nicht, dass die USA erst 2010 ihre Grenzen für HIV-Positive geöffnet haben. Oder dass es in 43 Ländern immer noch Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen für HIV-Positive gibt. Oder dass Russland, Uganda und etliche andere Länder unlängst antihomosexuelle Gesetze beschlossen haben, die das Leben von Tausenden beeinträchtigen.
Reportagen wie „Out of Sight“ wollen aufrütteln und Umdenken ermöglichen. Was hat Ihr Projekt bei Ihnen selbst bewirkt?
Als Fotojournalist versuche ich, diese Welt, in der wir leben, ein wenig zu verändern, indem ich etwas erzähle. Und jedes Mal, wenn ich an einer Geschichte arbeite, versuche ich auch, mich selbst ein wenig zu verändern. Als Hypochonder fing ich an, gesundheitliche Themen aufzugreifen – als eine Art Selbsttherapie, um meine Ängste zu bekämpfen. Und weil ich in einer Zeit aufwuchs, in der die Aids-Epidemie besonders schlimm war, hatte ich stereotype Vorstellungen von der Krankheit und ihren sozialen und kulturellen Hintergründen. Ich merkte schließlich, dass mit HIV und Aids eine Menge Stigma verbunden ist und dass Stigma ein Hauptgrund ist, warum HIV-Positive überall auf der Welt nicht die Behandlung, Versorgung und Unterstützung bekommen, die sie brauchen.
„Eine Art Selbsttherapie, um eigene Ängste zu bekämpfen“
Ich habe eine Menge über HIV und Aids gelernt, ebenso über die menschliche Natur. Ich habe gelernt, dass Menschen sehr gemein, aber auch sehr großzügig und hilfsbereit sein können. Mitgefühl, gegenseitiges Verständnis, Rücksichtnahme und Solidarität gehören zu den besten Dingen, die ich auch bei der Arbeit an dieser Reportage beobachtet habe.
Was kommt als Nächstes? Wird HIV/Aids weiterhin ihr Thema bleiben?
Nach den Ausstellungen in Genua und Mailand im Oktober und Dezember 2014 möchte ich meine Fotos an weiteren Orten zeigen, in Italien und im Ausland. Wir haben bereits um Fördermittel gebeten für Ausstellungen in acht oder zehn italienischen Städten und warten noch auf die Antworten.
Als Nächstes werde ich mich aber wahrscheinlich einem anderen Thema zuwenden. Nach den vier Jahren, in denen ich mich völlig auf „Out of Sight“ konzentriert habe, muss ich etwas Neues beginnen, damit meine Neugier frisch und lebendig bleibt. Das Thema HIV/Aids wird aber bei mir bleiben wie jedes andere Thema, zu dem ich gearbeitet habe. Wenn man so lange Zeit völlig in einer Sache aufgeht und dabei so viele besondere Menschen trifft, wird das alles ein Teil von dir, etwas, das fürs ganze Leben bei dir bleibt und sich zu dem fügt, was du bist oder sein wirst.
Das Interview führte Ljuba Böttger
Website der Fotoreportage Out of Sight