Am Samstag, dem 13. Juni um fünf vor zwölf findet auf dem Frankfurter Opernplatz eine von „Doña Carmen“ angemeldete Veranstaltung gegen den Entwurf des Prostitutionsschutzgesetzes statt. Bernd Aretz begründet, warum wir teilnehmen müssen
„Ich kann mir unsere Gesellschaft ohne Prostitution gar nicht vorstellen“, antwortete Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch auf die Frage des Magazins der Süddeutschen Zeitung, ob ein Prostitutionsverbot sinnvoll wäre, und setzte hinzu, andernfalls gäbe es Mord und Totschlag. Und er führte aus, was ein jeder ertragen müsse, wenn er überleben wolle, sei es die Schönheitsoperation, um für Filmrollen attraktiver zu sein, oder die alltägliche Liebedienerei im Interesse des Arbeitsplatzes. An der bigotten Hatz auf Prostituierte will er sich jedenfalls nicht beteiligen.
Laut Wikipedia gibt es weder in Deutschland noch international „eine systematische, zusammenhängende Datenerhebung zu den geschichtlichen, gesundheitlichen und sozialhygienischen Aspekten der Prostitution“. Vieles davon sei milieubedingt nichtöffentlich und könne folglich kaum erfasst werden. Wissenschaftliche Erhebungen gebe es daher „hauptsächlich an Krisenorten wie Krankenhäusern, Psychiatrien, Kinderheimen, Flüchtlingslagern, Polizeistationen und/oder Gefängnissen“ und seien beeinflusst „von den besonderen sozialen Umständen der dort konzentrierten Personengruppen, den damit verbundenen Problemen, den kulturellen, sozialen und politischen Hintergründen“. Weiter heißt es: „Viele Frauen gehen dieser Tätigkeit nur gelegentlich oder in einem kurzen Lebensabschnitt nach. Präzise Angaben über Anzahl der Prostituierten gibt es nicht.“
Branche mit erheblicher Wirtschaftskraft
Nach Untersuchungen von Dieter Kleiber im Jahr 1994 betrug der Anteil der Männer, die in Deutschland schon mal für Sex bezahlt haben, 18 Prozent und lag damit international im oberen Mittelfeld, jedoch deutlich unter den spanischen Männern. 2005 wurde in der Ausstellung „Sexarbeit: Prostitution – Lebenswelten und Mythen“ im Hamburger Museum der Arbeit vermutet, die Wirtschaftskraft der gesamten Sexbranche betrage pro Jahr etwa 14,5 Milliarden Euro.
Neben illegalisierten Drogen und der Eheschließung für gleichgeschlechtlich Liebende gibt es wohl kaum ein Feld, das ideologisch derart umkämpft ist wie die Prostitution.
Seit 2001 haben wir – gegen den Widerstand der CDU/CSU – ein Prostitutionsgesetz von gerade einmal drei Paragrafen, in dem Sexdienstleister_innen endlich ein einklagbarer Anspruch auf Entgelt zuerkannt wird. Vorher konnte sich der befriedigte Mann auf Sittenwidrigkeit berufen, riskierte aber je nach Ort mindestens ein blaues Auge. Gleichzeitig wurde, wie seit etwa 1900 von der Sexualwissenschaft gefordert, der Bockschein abgeschafft, mit dem Huren nachweisen mussten, dass sie sich regelmäßig gesundheitlichen Untersuchungen unterzogen. Im öffentlichen Gesundheitsdienst konnte man aufatmen: Endlich bestand die Chance, dass die Frauen und jungen Männer ihn als Partner in Sachen sexuelle Gesundheit wahrnehmen würden.
Ein ideologisch hart umkämpftes Feld
Sittenwidrig war das Ganze nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Berlin schon lange nicht mehr, denn „die staatliche Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) darf nicht dazu missbraucht werden, den Einzelnen durch einen Eingriff in die individuelle Selbstbestimmung gleichsam vor sich selbst zu schützen.“ Der Europäische Gerichtshof schließlich stellte klar, „dass Prostitution zu den Erwerbstätigkeiten gehört, die „Teil des gemeinschaftlichen Wirtschaftslebens“ im Sinne von Art. 2 EG sind“.
Dann tauchten auf einmal Begriffe wie „Flatrate-Bordelle“ auf – die ganze Nation empörte sich, und der Schrei nach einem Prostitutionsverbot wurde immer lauter. Juanita Henning, Sozialarbeiterin bei Doña Carmen, der Anlauf- und Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen mitten im Frankfurter Kiez, winkt ab: „Das ist doch nur ein spezifisches Geschäftsmodell. Es kommt im Übrigen Frauen entgegen, die nicht selbstständig arbeiten wollen.“ Tatsächlich gehen die Kritiker_innen davon aus, dass der durchschnittliche Mann in der Lage ist, ein ganzes Bordell zu befriedigen. Ich glaube ja nun nicht, dass diese Annahme aus häuslicher Erfahrung gewonnen wurde. „Ja, aber darf man denn Menschen als Ware sehen?“, werfen die Kritiker_innen ein, die gleichzeitig keinerlei Bedenken haben, gegen den Mindestlohn zu polemisieren. Vielleicht könnte man statt all der Aufregung auch mal der Frage nachgehen, wie sich die Arbeitsverhältnisse in einem solchen Betrieb gestalten.
Und immer wieder wird auch die Zwangsprostitution ins Feld geführt, möglichst noch in Verbindung mit Menschenhandel. Als böten das Strafrecht und Strafprozessrecht nicht genügend Handhaben, dieses Treiben wirksam zu verfolgen – Nötigung, Erpressung, Freiheitsberaubung, organisierte Kriminalität, um nur ein paar der einschlägigen Normen zu nennen. Wollte man den Missständen wirklich beikommen, würde erst einmal ein vernünftiges Bleiberecht für die aussagewilligen Frauen geschaffen werden. Und den Hilfsprojekten mit Notschlafstellen ermöglichte man es, für eine angemessene Ausstattung zu sorgen.
In der Diskussion stecken ebenso fremdenfeindliche Momente. Als ein bekannter Frankfurter CDU-Politiker ins Zentrum eines Skandälchens gezerrt wurde, bei dem Frauen und Kokain eine Rolle spielten, warf man ihm öffentlich vor, es habe sich ja noch nicht einmal um deutsche Frauen gehandelt. Chapeau vor so viel Dreistigkeit!
„Mit Huren wurde nichts abgestimmt“
Seit ein paar Jahren wird der Boden für die Rückkehr in „die gute alte Zeit“ bereitet. EMMA hat mit Alice Schwarzer eine Kampagne gegen die Prostitution gestartet. Mit Huren oder dem öffentlichen Gesundheitsdienst wurde da nichts abgestimmt. Wenn schon nicht die Prostitution verboten werden kann, dann sollen sich wenigstens diejenigen Freier strafbar machen, die eine Zwangslage ausnutzen. Aber was ist eine „Zwangslage“? Für manche besteht sie schon dann, wenn jemand zwecks Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Situation migriert.
Und wie soll der Freier die Opfer von Menschenhandel erkennen? Juanita Henning kennt Freier mit Rettungsfantasien: „Soll es reichen, wenn einer sagt, ich hab da so ein finsteres Gefühl, dass die Frau das nicht freiwillig macht, und ich bin der Mann, der sie aus dieser Situation retten kann? Und was beweist das schon?“
Nun liegt ein Entwurf der Regierungskoalition zu einem neuen Prostitutionsgesetz vor. Und obwohl er weit hinter alle sexual- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse zurückfällt, geht er der CDU/CSU nicht weit genug.
Zwangsberatungen, Kondompflicht, anlasslose Kontrollen
Erstmals sind regelmäßige Zwangsberatungen vorgesehen – gegen den Rat von Gesundheits- und Sozialverbänden, von Public Health und der öffentlichen Gesundheitsdienste. Und Kondompflicht für alle. Juanita Henning liegt ein 69 Seiten starkes Gutachten vor, das darlegt, warum die Kondompflicht unsinnig ist. Zugleich stellt sich für sie die Frage, wie die Sache wohl überprüft werden mag. Außerdem drohen eine Genehmigungspflicht – und zwar bereits dann, wenn eine einzelne Sexarbeiterin zur Berufsausübung eine Wohnung anmietet –, anlasslose Kontrollen (ältere schwule Männer können sich noch gut an Razzien in Lokalen, Grünanlagen und Bedürfnisanstalten erinnern) und Auflagen.
Es muss hier noch einmal an die auch für die Bundesrepublik verbindliche Ottawa Charta der Weltgesundheitsorganisation erinnert werden, nach der für die Gesundheit eine weitgehende Beteiligung der Betroffenen an der Gestaltung ihrer Lebensumstände als unabdingbar angesehen wird.
Der große österreichische Publizist Karl Kraus merkt zu Sittlichkeit und Kriminalität an: „Auf dem Gebiete der sexuellen Moral wünschen die Sozialdemokraten keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, dass das Wort ‚Genosse‘ nicht von ‚genießen‘ stammt“, und Volkmar Sigusch im Magazin der Süddeutschen: „Und wissen Sie, welche Erfahrung ich im Laufe meiner Arbeit gemacht habe? Je aggressiver öffentliche Personen gegen Prostituierte auftreten, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie deren Dienste in Anspruch genommen haben.“
„Der Entwurf gehört in den Schredder“
Um dieses unsinnige Gesetz zu verhindern oder wenigstens nicht widerstandslos hinzunehmen, ruft Doña Carmen für Samstag, den 13. Juni 2015, Sexarbeiter_innen, Freier_innen und Kämpfer_innen jedweden Geschlechts dazu auf, bei der großen Veranstaltung auf dem Frankfurter Opernplatz gegen die Beschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte Flagge zu zeigen.
Der Entwurf gehört in den Schredder. Die Möglichkeit einer Anmeldung von Prostitutionsstätten nach § 14 Gewerbeordnung sollte als Sofortmaßnahme reichen, um Sexarbeiter_innen in den Wirtschaftskreislauf einzubinden.
Website von Doña Carmen